Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Tochalis – oder Unschätzbare Blume, wie wir sie auch nennen – wirkt wahre Wunder bei Marie. Sie ist das richtige Gegenmittel.«
»Ja, und?«, stieß Pavel heftig hervor.
»Als wir beim Großen Chaos ins Da-Draußen geschleudert wurden, nahm ich in meiner Boximinor eine Auswahl der wichtigsten Pflanzen und Geschöpfe aus Edefia mit«, führte der Feenmann mit bleichem Gesicht aus. »Darunter auch eine Tochalis-Pflanze, die ich nur mit Müh und Not am Leben erhalten konnte. Dank sorgfältiger Pflege konnten Dragomira und ich ein paar Ableger davon ziehen. Allerdings war das alles andere als leicht, glaub mir. Die Erde im Da-Draußen bietet nicht all die Nährstoffe, die die Tochalis braucht, um zu gedeihen. Aus der ganzen Welt haben wir Erdproben kommen lassen und damit experimentiert, und mit einer Mischung aus Erde vom östlichen Amazonas-Ufer und aus den Orangenplantagen von Córdoba schien es zu gelingen. Auf diesem Boden sind die Pflanzen gut gewachsen, und dadurch konnten wir das Gegengift entwickeln, das bei Marie so positiv angeschlagen hat. Ja, Pavel, die Tochalis ist das einzige Gegengift, das Marie retten kann.«
Abakum blickte ihm tief in die Augen, bevor er fortfuhr.
»Vor zwei Wochen hat Marie eine Dosis Tochalis eingenommen, durch die sich ihr Zustand enorm gebessert hat. Diese Dosis war die letzte. Wir haben keine Tochalis mehr, Pavel. Trotz all unserer Bemühungen ist die letzte Pflanze, die wir hatten, eingegangen. Gestern Abend.«
»Aber … aber was können wir jetzt tun?«, brachte Pavel mühsam heraus.
»Ich habe auf der ganzen Welt danach gesucht, aber ich kenne nur einen Ort, wo man die Tochalis findet«, erklärte der Feenmann. »Einen Ort, wo sie im Überfluss wächst, wo man sich nur zu bücken braucht, um sie zu pflücken …«
»Dann lass uns hinfahren, sofort! Worauf warten wir noch?«, rief Pavel.
Abakum legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, ohne den Blick von ihm zu wenden: »Dieser Ort ist das Unzugängliche, in den wilden Ebenen im Süden Edefias. Nur dort werden wir die Tochalis finden, die Marie vor dem Tod retten kann.«
Wer ist der wahre Tugdual?
E
s entging Oksa nicht, dass Dragomira und Abakum sehr besorgt wirkten. Zwar hatten sie angesichts der Umstände gut und gern eine Milliarde Gründe, sich Sorgen zu machen, das war nicht zu leugnen. Doch Oksas Spürsinn sagte ihr, dass noch etwas anderes dahinterstecken musste. Etwas noch Ernsteres und noch Geheimeres. Sie spitzte die Ohren, um vielleicht ein paar Bruchstücke der Unterhaltung aufzuschnappen, die die beiden im Wohnzimmer, nur ein paar Meter weit weg von ihr, führten. Aber die zwei Erwachsenen fühlten sich anscheinend beobachtet, denn sie redeten so leise, dass Oksa kein Wort verstehen konnte. Enttäuscht ließ sie sich zwischen den beiden Plemplems, die sich artig neben sie gesetzt hatten, noch tiefer in das karmesinrote Ledersofa sinken. Die beiden Geschöpfe sahen sie mit ihren großen Glupschaugen erwartungsvoll an. Oksa war jedoch mit den Gedanken woanders und starrte vor sich hin, während sie mit einer Hand geistesabwesend den flaumigen Unterarm des Plemplems streichelte. Die Eingemäldung war für den folgenden Abend geplant. Wie seltsam das Ganze anmutete … Während ihre Mitschüler ihre Koffer packten, um in Urlaub zu fahren, bereitete sie sich darauf vor, in einem verwunschenen Gemälde zu verschwinden.
»Jedem das Seine«, murmelte sie mit einem Anflug von Galgenhumor.
»Die Worte der Jungen Huldvollen sind gehüllt in Sarkasmus«, bemerkte der pausbäckige kleine Plemplem.
»Gut beobachtet!«, seufzte Oksa und warf dem Plemplem einen schiefen Blick zu. »Zumindest bin ich froh, dass die Plempline mit auf die Reise kommt.«
»Die Plemplems dürfen nie die Trennung von ihren Herrinnen erfahren. Die Huldvollen sind der Daseinsgrund der Plemplems, und an ihrer Begleitung muss festgehalten werden, egal, wie die Umstände sein mögen. Der Plemplem ist der Hüter des Absoluten Wegweisers und wird als solcher hier über die Anwesenheit der Alten Huldvollen wachen, während die Plempline der Jungen Huldvollen ihre Begleitung im Gemälde angedeihen lassen wird. Der Tod ist die Verkörperung der einzig möglichen Trennung.«
Diese Möglichkeit laut ausgesprochen zu hören, jagte Oksa einen Schauder über den Rücken. Natürlich war das Ganze auch spannend, doch Oksa wusste sehr wohl, welche Gefahren mit dieser Mission verbunden waren und was dabei auf dem Spiel stand. Morgen Abend
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