Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Zimmerdecke, die von der Straße hereinfielen. Abakum lehnte am Fenster und beobachtete ihn mit ernster Miene.
»Ich weiß, dass du anderer Meinung bist als wir, und bin mir bewusst, wie viel Überwindung es dich kostet, unserem Entschluss zuzustimmen und dich eingemälden zu lassen«, sagte er jetzt in sanftem Ton.
»Ihr lasst mir ja keine Wahl«, erwiderte Pavel.
»Die hat keiner von uns«, stellte Abakum fest. »Unser aller Zukunft hängt davon ab: die des Da-Draußen, unsere eigene und die der Menschen, die uns folgen. Aber auch wenn du das anders siehst, so gibt es noch einen weiteren Grund, weshalb wir nur nach vorn gehen können.«
»Was sollte das sein? Reicht es denn nicht, die Verantwortung für die ganze Welt zu tragen?«
»Der andere Grund ist Marie«, sagte Abakum. Seine Stimme klang auf einmal sehr matt.
Pavel brachte kein Wort heraus. Ihm war plötzlich, als ob sich in ihm ein schwindelerregender Abgrund auftat. Sein Puls raste, während er auf Abakums Erklärung wartete.
»Maries Chancen stehen sehr schlecht«, verkündete der alte Mann mit gebrochener Stimme. »Das Gift der Robiga nervosa ist stärker als alle Gegenmittel, die Dragomira und mir zur Verfügung stehen. Wir haben alles versucht. Es tut mir leid, Pavel. Es tut mir so leid.«
Eine qualvolle Stille trat ein. Für Pavel war es, als bräche die Welt zusammen.
»Aber … aber …«, stammelte er panisch. »Ich dachte, die Wurmiculums helfen! Und dieses Mittel aus … wie heißt die Pflanze gleich noch mal … Tochalis? Es wirkt doch hervorragend, Marie hat unglaubliche Fortschritte damit gemacht, das hast du doch selbst gesagt! Sie ist auf dem Weg der Besserung. Wie kannst du da jetzt behaupten, ihre Chancen stünden schlecht? Wie kannst du so etwas sagen, Abakum?«
Pavel konnte nicht weiterreden, seine Verzweiflung war einfach zu groß. Er setzte sich auf den Bettrand und ließ den Kopf in die Hände sinken. Einen solchen Schmerz hatte er seit dem Tod seines Vaters nicht mehr gefühlt. Sie hatten damals noch in Sibirien gelebt, und Pavel war acht Jahre alt gewesen. Sein Vater Wladimir war der Enkel des großen Schamanen Metschkow, der Dragomira, Leomido und Abakum bei sich aufgenommen hatte, nachdem sie aus Edefia herauskatapultiert worden waren. An einem eisigen Tag im Dezember, kurz vor Weihnachten, war Wladimir von der russischen Geheimpolizei abgeholt worden. Die Verhaftung war unglaublich brutal vor sich gegangen. Die Polizisten hatten Wladimir vor den Augen seiner Frau und seines Sohnes geschlagen und beschimpft, dann war er in einen Gulag abtransportiert und als »Staatsfeind« abgeurteilt worden. Das war das letzte Mal, dass Pavel seinen Vater gesehen hatte. Ein paar Wochen später erhielt Dragomira die schreckliche Nachricht, Wladimir sei bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Weder Dragomira noch Abakum noch sonst jemand, der Wladimir gekannt hatte, ließ sich von dieser offiziellen Version täuschen. In dem Zustand, in dem sie ihn mitgenommen hatten, hätte er gar nicht mehr die Kraft gehabt, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Sie hatten Wladimir hingerichtet, erschlagen wie einen Hund, weil ihnen seine besonderen Gaben ein Dorn im Auge gewesen waren – das war die Wahrheit. Und Pavel war nie über diesen Schmerz hinweggekommen.
Als Abakum nun mit ihm über Maries schlechten Zustand sprach, spürte Pavel, wie sich der alte Kummer wieder regte. Seine anfängliche Weigerung, der Wahrheit ins Auge zu sehen, wich nun einer maßlosen, ohnmächtigen Wut. Es war alles so ungerecht! Warum Marie? Warum ausgerechnet die Harmloseste und Friedfertigste von ihnen allen? Er hatte nicht vergessen, dass die vergiftete Seife für Oksa bestimmt gewesen war. Aber Oksa hätte sich trotz ihres jungen Alters und ihrer Unerfahrenheit gegen die Auswirkungen der Robiga nervosa vermutlich besser zur Wehr setzen können. Oksa … die Junge Huldvolle … Schützling der Alterslosen Feen … Oksa – so jung und so entschlossen, so verletzlich und doch so mächtig. Oksa, seine einzige Tochter, und Marie, seine über alles geliebte Frau. Die beiden waren alles, was er hatte. Pavel hätte sie so gern beschützt, hätte sich so gern seiner Rolle als Vater und Ehemann würdig erwiesen. Stattdessen lag seine Frau gelähmt im Bett, und das Schicksal seiner Tochter lag in den Händen einer Handvoll alter Leute, die sich ihren Illusionen hingaben.
»Du hast schon recht, Pavel«, sagte Abakum nun mit Tränen in den Augen. »Die
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