Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
Vom Netzwerk:
ihm auf einem Flur in der Gläsernen Säule begegnete, war ich selbst niedergeschmettert von der völligen Gleichgültigkeit, die ich bei seinem Anblick verspürte. Ich wusste noch, dass ich diesen Mann mehr als alles in der Welt geliebt hatte. Ich wusste, dass noch einen Tag zuvor mein Herz nur für ihn geschlagen hatte. Doch diese Liebe war mir gestohlen worden. Ich wurde ohnmächtig, so sehr traf mich der Schmerz dieser Entfremdung. Eine Liebsten-Entfremdung, unter der ich für den Rest meines Lebens leiden sollte. Seit diesem unseligen Tag war ich nie wieder fähig, mich in jemanden zu verlieben.
    Mein Vater hatte gewonnen. Und auch Malorane, seine Verbündete bei dieser grauenvollen Sache, konnte triumphieren: Ich liebte Leomido nicht mehr. Er merkte es sehr schnell und ging mir von da an aus dem Weg. Ich hätte es ihm sagen sollen, ihm von dem Grauen, das ich erduldet hatte, erzählen sollen, aber ich brachte es nicht über mich. In meinem tiefsten Innern schämte ich mich. Vor allem aber hatte ich Angst vor seiner Reaktion: Wenn er die Wahrheit erführe, dann würde Blut fließen, davon war ich überzeugt, denn Leomido war nicht der Mann, der eine solche Untat ungesühnt lassen würde. So verfiel ich, eingemauert in mein Schweigen, in eine tiefe Depression, die niemand bemerkte außer meiner Mutter. Währenddessen feilten mein Vater und mein Bruder an dem Plan, mit dem sie Malorane zu Fall bringen wollten. Um mich machten sie sich keine Gedanken mehr, sie achteten kaum noch auf mich. Ich konnte gehen, wohin ich wollte, ihre Gespräche belauschen, ohne dass es sie gestört hätte. Mir wurde klar, dass sich das Da-Drinnen bald öffnen würde, und dann würden sie die ganze Welt regieren.
    Ich versuchte, Leomido zu warnen, doch er drehte sich schon um, wenn er mich auch nur von Weitem sah. Und mit Malorane konnte ich mich einfach nicht treffen. Ihre Beziehung zu meinem Vater hatte sich zwar dramatisch verschlechtert, aber diese Frau trug genauso viel Schuld an meinem Unglück wie er. Also sprach ich mit meiner Mutter, die wie ich unter dem Verhalten meines Vaters litt, und dabei kam mir die Idee, genau wie die Treubrüchigen nach Da-Draußen zu fliehen. Nicht um, wie sie es vorhatten, die Welt zu regieren, sondern um einer Welt zu entkommen, die mir keine Freude und keine Sicherheit mehr bot. Meine Mutter zögerte, doch dann stellte sich etwas heraus, das sie endgültig überzeugte: Ich war schwanger! Ich erwartete ein Kind von Leomido! Uns war klar: Wenn mein Vater davon erführe, würde er das Kind als Machtinstrument für seine Zwecke missbrauchen. Stellt euch das vor: das Kind einer Mauerwandlerin, die von Temistokeles abstammte, und des Sohns der Huldvollen Malorane! Und so verschwiegen wir alles und warteten ab. Das Chaos brach wenige Wochen später aus, nachdem das Geheimnis-das-nicht-enthüllt-werden-darf verraten worden war. Unsere schöne Welt wurde von den Treubrüchigen in Brand gesteckt und mit Blut überzogen, und meine Mutter und ich nutzten das ganze Durcheinander, um zum Tor Edefias zu gelangen. Ich sah, wie Leomido und die Junge Huldvolle Dragomira es passierten, neben einigen anderen. Das Tor begann bereits, sich wieder zu verschließen, als wir ankamen. Ich fasste meine Mutter an der Hand, hielt sie, so fest ich konnte, und wir stürzten uns hindurch – unter dem fassungslosen Blick meines Vaters, der uns ein ›NEIN!‹ hinterherschrie. Doch sein Ruf kam zu spät. Wir waren bereits auf der anderen Seite, im Da-Draußen.
    Wir hatten das Glück, in den Niederlanden anzukommen, einem ruhigen und wohlhabenden Land. Sechs Monate später kam mein Sohn Jan zur Welt. Leider lernte er seine Großmutter nicht mehr kennen: Meine arme Mutter starb wenige Monate nach unserer Ankunft an gebrochenem Herzen. Es war eine harte Zeit für mich. Wer weiß, ob ich ohne meinen Sohn die Einsamkeit des Exils überlebt hätte. Ich musste oft an Edefia denken und an die, die das Tor durchquert hatten. Und ich fühlte mich so allein mit meiner Qual und meinen Ängsten. Vor allem wegen meiner Andersartigkeit im Vergleich zu den Von-Draußen, die für mich – wie für euch alle – eine permanente Quelle der Gefahr darstellten. Aber ich habe gekämpft, habe mich angepasst und mich schließlich an das Leben im Da-Draußen gewöhnt. Ich wurde Diamantschleiferin, erarbeitete mir einen guten Ruf, und das gab mir Vertrauen und Kraft. Ich zog meinen Sohn auf, so gut ich konnte. Das Leben ging seinen ruhigen Gang ohne

Weitere Kostenlose Bücher