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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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irgendwelche Überraschungen, weder gute noch böse.
    Doch eines Tages, dreißig Jahre nach dem Großen Chaos, meldete sich das Schicksal zurück und rief mir all die Dinge, die mit der Zeit verblasst waren, wieder lebhaft in Erinnerung. In der Zeitung stieß ich zufällig auf einen Artikel über den brillanten Dirigenten Leomido Fortensky. Es war ein Foto dabei, auf dem ich ihn sofort wiedererkannte. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein heftiges Gefühl dies bei mir auslöste. Als ob sich der Boden unter mir auftat, um mich zu verschlingen. Da hatte ich mich über dreißig Jahre lang bemüht, wie alle anderen zu leben, und plötzlich tauchte die Vergangenheit wieder auf, als wollte sie mir sagen: ›Vergiss niemals, wer du bist!‹ In dem Artikel stand, dass Leomido an diesem Abend ein Konzert in der Royal Albert Hall geben würde.
    Ich weiß selbst nicht, was damals in mich gefahren ist. Ich eilte zum Flughafen und nahm den ersten Flieger nach London. Dort dann die große Enttäuschung: Das Konzert war ausverkauft. Da tat ich etwas, was ich in all den Jahren nicht getan hatte und auch in Zukunft nie wieder tun wollte, das versprach ich mir an Ort und Stelle: Ich bediente mich meiner besonderen Fähigkeiten und stahl – auf magische Weise – eine Karte direkt aus der Handtasche einer Besucherin. Zu meinem Glück war es ein Platz in einer der Logen, wo man vor den Blicken der anderen geschützt ist, und so konnte ich den Saal überblicken, ohne befürchten zu müssen, dass ich selbst gesehen wurde. Ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte, doch meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Als ich Naftali und Brune erkannte, fing mein Puls zu rasen an. Da saßen sie, prächtig anzusehen, in der zweiten Reihe. Ein paar Plätze von ihnen entfernt entdeckte ich Bodkin, meinen bevorzugten Schmuckhersteller aus Edefia. Zufällig trug ich an diesem Abend – obwohl ich doch seit Jahren selbst wunderschönen Schmuck bearbeitete – einen Armreif von ihm, ein kostbares Stück mit Smaragden in Form winziger Sterne. Mein Blick schweifte fieberhaft über die Reihen im Parkett. Plötzlich ging das Licht im Saal aus und die Bühnenbeleuchtung an. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich Leomido auf die Bühne kommen sah. Er grüßte das Publikum und wandte sich dann dem Orchester zu. Zwei Stunden lang betrachtete ich ihn unter einer fast unerträglichen Anspannung. Er hatte sich kaum verändert.
    Am Ende des Konzerts trat eine Frau zu ihm und gab ihm einen Kuss – seine Frau, vermutete ich, und zu meiner eigenen Überraschung gab es mir einen Stich. Er hatte also geheiratet, hatte sein Leben gelebt. Natürlich. Warum auch nicht? Ich verspürte einerseits Erleichterung darüber, andererseits aber auch einen tiefen Schmerz, weil mir in diesem Moment aufging, wie sehr ich unter meiner Einsamkeit litt. Nie wieder würde ich das Glück der Liebe erleben. Ich hatte mit den Jahren aufgehört, daran zu denken, doch als ich nun dieses Paar vor mir sah, so schön, so glücklich, traf mich die Erkenntnis erneut mit voller Wucht. Am Boden zerstört, blieb ich in der Loge sitzen, als plötzlich eine Stimme hinter mir ertönte: ›Guten Abend, liebe Schwester! Wie schön, dich wiederzusehen.‹
    Dreißig Jahre waren vergangen, aber diese Stimme hätte ich unter Tausenden erkannt. Mein Bruder Orthon stand hinter mir, so nah, dass er mich fast berührte. Ich war geschockt, wagte nicht, mich umzudrehen. Was auch gar nicht nötig war, denn Orthon setzte sich neben mich und legte seine Hand auf meine. Ich ließ es zu, ich war wie gelähmt.
    ›Unser gemeinsamer Freund ist ein wahrer Magnet für alle Von-Drinnen, findest du nicht?‹, sagte er ironisch. ›Bestimmt hast du genau wie ich einige unserer gemeinsamen Bekannten entdeckt. Aber das Wichtigste ist, dich wiedergefunden zu haben. Ich war mir allerdings sicher, dass du der Versuchung nicht widerstehen könntest …‹
    Als ich mich endlich zu ihm umwandte, entfuhr mir ein Aufschrei: Er sah so jung aus! Und so hart. Ich hatte wahrlich keine gute Erinnerung an ihn, ganz im Gegenteil, aber in diesem Augenblick hasste ich ihn aus vollem Herzen. Und dieses Gefühl nahm nur noch zu, als mir aufging, was seine Beweggründe dafür waren, nach Edefia zurückkehren zu wollen. Er hatte sein Leben dem Ziel verschrieben, das Tor erneut zu öffnen, und zu diesem Zweck musste er die nächste Huldvolle in seine Gewalt bekommen. So durchstreifte er die Welt und überwachte alle

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