Oksa Pollock. Die Entschwundenen
hatte Merlin schließlich eingewilligt, da er ahnte, dass wohl noch etwas anderes dahinterstecken musste.
Eine halbe Stunde später saß die alte Dame im Wohnzimmer der Poicassés und nippte nervös an einer Tasse Tee. Merlins Eltern waren bei der Arbeit. In allen Einzelheiten erzählte ihm Dragomira, was sich in den vergangenen Tagen zugetragen hatte, angefangen bei Gus’ Verschwinden bis zum jüngsten Bericht des Wackelkrakeels. Und natürlich erzählte sie auch von der Eingemäldung Oksas und der anderen. Merlin war völlig bestürzt über diese Neuigkeiten, doch er zögerte keinen Augenblick, auf die Bitte der Baba Pollock einzugehen und die Leinwand zu verstecken.
»Du bist der Einzige von uns, den sie nicht verdächtigen, mein Junge«, beschwor sie ihn.
»Sind Sie sicher, dass Ihnen niemand gefolgt ist?«, hatte Merlin gefragt. Die enorme Verantwortung, die ihm da aus heiterem Himmel auf die Schultern gelegt wurde, wog schwer.
»Absolut«, hatte ihm Dragomira versichert.
Doch trotz dieser Versicherung befiel Merlin, wenige Stunden nachdem die alte Dame wieder gegangen war, ein ungutes Gefühl. Er schob den Vorhang vor seinem Fenster kaum merklich zur Seite und blickte zum Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Der Mann saß immer noch dort. Seit zwei Stunden hatte er sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt, hatte einen Kaffee nach dem anderen getrunken und den Blick nicht vom Haus der Poicassés gewendet. Vielleicht war es nur ein Zufall, ein Streich, den ihm seine überreizte Phantasie spielte. Aber eigentlich glaubte er das nicht: Dieser Mann da draußen beobachtete das Haus. Er wusste, dass Dragomira hier gewesen war. Aber worauf wartete der Kerl dann noch? Warum saß er immer noch da und trank in aller Ruhe Kaffee? Wenn er ihm die Leinwand rauben wollte, dann brauchte er es doch nur zu tun, nichts leichter als das! Der Typ bräuchte nur ins Haus einzudringen, die Treppen zu seinem Zimmer hinaufzugehen, ihm einen Schlag auf den Schädel zu verpassen oder ihn an einen Stuhl zu fesseln, und das war’s …
»Ahh!«
Merlin fuhr erschrocken zusammen: Es hatte an der Haustür geklingelt! Noch nie hatte die Türglocke so bedrohlich geklungen. Reflexartig blickte er aus dem Fenster.
»Oh nein … Das darf nicht wahr sein!«
Der Mann aus dem Straßencafé war verschwunden! Natürlich war er das, er stand ja gerade unten vor der Haustür! Es gab keinen Zweifel mehr. Merlin schlich auf den Treppenabsatz und wagte einen Blick zur Eingangstür hinunter, die mit einer Milchglasscheibe versehen war. Eine massige dunkle Silhouette zeichnete sich durch das Glas ab. Merlins Knie fingen an zu schlottern, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er durfte auf keinen Fall noch länger hierbleiben! Er drehte sich auf dem Absatz um, packte den Köcher, steckte ihn in seinen Rucksack und stürzte ins Badezimmer im rückwärtigen Teil des Hauses. Er stellte sich auf den Rand der Badewanne, schob das kleine Fenster auf, das auf den Hinterhof hinausging, und schwang mit vor Anspannung zusammengebissenen Zähnen ein Bein hindurch. Beim Blick in die Tiefe unter ihm schwindelte ihn, doch er kam schnell zu dem Schluss, dass dies das kleinere Übel war: In diesem Augenblick hörte er nämlich, wie unten die Haustür geöffnet wurde und gleich darauf schwere Schritte die Treppe heraufkamen. Wenn der Mann ihn erwischte, würde er ihm die Leinwand abnehmen, und Oksa wäre für immer verloren! So klammerte der Junge sich an das Rohr der Dachrinne, das an der Mauer entlang nach unten lief, stemmte die Füße gegen die Ziegelmauer und kletterte geschickt wie eine große Spinne daran hinunter.
»Mein Sohn? Sind Sie sicher, Meredith?«
»Ja, Mr Poicassé. Er steht unten am Eingang.«
»Ich komme sofort.«
Edmund Poicassé bahnte sich einen Weg zwischen den Touristen hindurch, die sich auf den Treppen des berühmten Uhrturms von Big Ben drängten. Merlins Vater war ein stattlicher und temperamentvoller Mann. Seine Begeisterung für London hatte in den paar Jahren, die sie hier lebten, einen echten Londoner aus ihm gemacht – er hatte schon fast vergessen, dass er eigentlich Franzose war. Nur hin und wieder verriet ihn noch seine Aussprache, doch das machte ihn in den Augen seiner Arbeitskollegen umso sympathischer. Und auf Englisch wandte er sich auch, als er am Empfang unten ankam, an seinen Sohn, was diesem nicht das Geringste ausmachte, denn Merlin beherrschte beide Sprachen perfekt.
»Was machst du denn
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