Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Mercedica. »Aber nun gut. Wir haben jetzt nicht die Zeit, nach ihm zu suchen. Die Knuts werden bald auftauchen, und vorher möchte ich hier fertig sein. Doch wenn wir schon nicht den Absoluten Wegweiser haben, dann wenigstens das hier!«, rief sie jubilierend und riss Dragomira das Medaillon von Malorane ab, das diese an einer Kette um den Hals trug.
»Das wird dir nichts nützen!«, schleuderte ihr die Baba Pollock mit schmerzverzerrtem Gesicht entgegen.
»Mach dir darüber mal keine Sorgen, meine liebe Dragomira. Ich werde es zu gegebener Zeit sehr wohl zu benutzen wissen! Und jetzt fordere ich dich zum letzten Mal auf: Gib uns das Gemälde!«
»NIEMALS!«, schrie Dragomira.
»Nun gut, dann finden wir es eben ohne deine Hilfe. Verlass dich darauf!«
»Ihr werdet es nicht finden!«, sagte Dragomira. »Es ist nicht mehr hier.«
Ihre Worte brachten die drei Treubrüchigen kurzzeitig aus dem Konzept. Mercedica blickte mit gerunzelter Stirn zu Gregor. Dann warf sie ihre Haare nach hinten und fauchte: »Du bluffst! Seit der Eingemäldung überwachen wir jeden deiner Schritte. Das Gemälde hat das Haus nicht verlassen, da bin ich mir ganz sicher.«
»Sicher ist gar nichts«, bemerkte Dragomira lakonisch und sah Mercedica an, als wolle sie sie mit Blicken erdolchen.
»Dragomira? Was ist denn los?«, ertönte plötzlich eine Stimme von unten. »Dragomira?«
Marie Pollock, die in der unteren Wohnung in ihrem Rollstuhl festsaß, rief nach ihrer Schwiegermutter. Dragomira begegnete Mercedicas Blick, und ihr stockte der Atem, als sie den ungeheuerlichen Gedanken, der der Treubrüchigen durch den Kopf schoss, in deren Augen las.
»Catarina, kümmerst du dich bitte um unsere liebe Marie, während Gregor sich auf die Suche nach dem macht, was uns so am Herzen liegt?«, sagte Mercedica in süßlichem Ton.
Dragomira konnte gerade noch sehen, wie Gregor durch den Kontrabasskasten ging, dann traf sie ein gewaltiger Fausthieb, und alles um sie her versank in Dunkelheit.
Ein geniales Versteck
W
ährend Gregor Dragomiras Streng-vertrauliches-Atelier auf den Kopf stellte, blickte Merlin Poicassé nervös zu dem sorgfältig verschlossenen Holzköcher hinüber, der auf seinem Schreibtisch lag. Oksas Großmutter hatte ihm den Gegenstand anvertraut, und so harmlos, wie er aussah, wäre man gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass sein Inhalt so kostbar war. Und doch hing von der Leinwand, die aufgerollt im Inneren des Zylinders lag, das Leben mehrerer Personen ab. Einschließlich dem von Oksa, diesem faszinierenden Mädchen, das Merlins Herz schneller schlagen ließ, sobald es ihn auch nur ansah … Sie war das hübscheste Mädchen, das ihm je begegnet war. Das hübscheste, das leidenschaftlichste und ganz bestimmt das magischste. So jemanden traf man vermutlich nur einmal im Leben. Seit jenem Tag, als er ihr zum ersten Mal gegenübergestanden hatte, war Merlin klar, dass sie nicht wie die anderen war. Immer wieder hatte er sie beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass sie magische Kräfte besaß. Und irgendwann war ihr nichts anderes mehr übrig geblieben, als es zuzugeben. Doch trotz der Bedenken ihres Freundes Gus hatte Oksa es nicht bereut, ihm das Geheimnis der Pollocks anvertraut zu haben. Er hatte geschwiegen wie ein Grab. Nie auch nur die geringste Anspielung vor ihren Mitschülern, nie irgendeine doppeldeutige Bemerkung. Diese Diskretion hatte ihm das Vertrauen Oksas und ihrer Familie eingebracht. Den Beweis dafür hatte er einige Stunden zuvor erhalten, als das Telefon geklingelt hatte. Er hatte abgenommen, und zu seiner Überraschung war es Dragomira Pollock gewesen, Oksas exzentrische Großmutter. Die alte Dame klang ziemlich durcheinander, sie atmete schwer und sprach ganz leise, als fürchte sie, belauscht zu werden. Dabei hatten sie gar nichts Heikles besprochen, sondern nur ein paar Banalitäten ausgetauscht.
»Ich habe Oksas Zimmer aufgeräumt und dabei ein paar Bücher gefunden, die dir gehören«, hatte Dragomira gesagt. »Dürfte ich sie dir vorbeibringen? Vielleicht brauchst du sie während der Ferien irgendwann, und Oksa ist schon in Urlaub gefahren.«
»Bücher, die mir gehören?«, hatte Merlin zurückgefragt und sich gewundert. Oksa hatte ganz sicher nichts davon erzählt, dass sie in Urlaub fuhr.
»Ja!«, hatte Dragomira in dringlichem Ton geantwortet. »Darf ich sie dir vorbeibringen? Ich muss sowieso eine Freundin besuchen, die in deiner Nähe wohnt.«
»Äh … ja, wenn Sie wollen«,
Weitere Kostenlose Bücher