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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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hier, mein Junge?«, fragte Edmund Poicassé verwundert.
    »Na, was wohl? Meinem alten Herrn einen Besuch bei der Arbeit abstatten«, antwortete Merlin mit gespielter Munterkeit. »Ob du es glaubst oder nicht, mir war irgendwie langweilig, und da bekam ich plötzlich Lust auf Big Ben! Ich glaube, ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr hier.«
    »Und ich muss mich schon die ganze Zeit zurückhalten, um es dir nicht unter die Nase zu reiben, stell dir vor!«, erwiderte sein Vater lachend und fuhr ihm über den Lockenkopf.
    »Zeigst du mir das Uhrwerk?«
    »Aber gerne, junger Mann.«
    Edmund Poicassé strahlte vor Freude, während er seinem Sohn voran das Gewirr von Treppen emporstieg, die zur Uhr hinaufführten. Durch die schmalen Fenster sah Merlin Bruchstücke von London – das Parlamentsgebäude, Westminster, den St. James’s Park. Und irgendwo in diesen Straßen war ein Mann, der nach ihm suchte … Er tastete nach dem Köcher in seinem Rucksack. Es war eine enorme Verantwortung, die Dragomira ihm übertragen hatte. Er musste an Oksa denken, die dadrin in dieser Leinwand eingesperrt war. So nahe war sie ihm noch nie gewesen! Und von ihm hing nun ihr Schicksal ab. Ein Schwindelanfall erfasste ihn. Er musste kurz stehen bleiben und sich am Treppengeländer festhalten.
    »Alles in Ordnung, Sohnemann?«, fragte sein Vater.
    »Ja, bestens, Papa.«
    Seine Antwort hatte ganz locker und sorglos geklungen. Er hatte wirklich das Zeug zum Schauspieler! Denn in Wahrheit war er ziemlich durcheinander. Nach seiner Flucht durchs Badezimmerfenster war er einfach nur losgerannt, mit rhythmischen, gleichmäßigen Schritten wie ein Marathonläufer, und hatte fieberhaft überlegt. Wo konnte er die Leinwand verstecken? In der St.-Proximus-Schule? Auf keinen Fall! Das war viel zu naheliegend. In einem Bahnhofsschließfach? Keine schlechte Idee. Aber vielleicht doch zu einfach. Er durfte kein Risiko eingehen. »Aber ja! Genau!«, war es ihm plötzlich herausgerutscht. Er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und den Weg zum Parlamentsgebäude eingeschlagen. Dort angekommen, hatte er mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen zu Big Ben hinaufgeblickt.
    »Keine Sorge, Oksa!«, hatte er vor sich hin gemurmelt und auf seinen Rucksack geklopft. »Dort wird dich niemand finden!«
    Der Uhrturm von Big Ben war zwar sicherlich einer der meistbesuchten Orte in ganz Großbritannien, doch Merlin besaß einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Touristen, die sich hier jeden Tag drängelten: Sein Vater war Uhrmachermeister und trug seit einigen Monaten den begehrten Titel »Hüter der großen Uhr«. Dies bedeutete, dass er Zugang zu Räumen hatte, die außer ihm und den beiden anderen Hütern der Uhr niemand betreten durfte.
    »Ich lasse dich einen Augenblick allein, ich muss kurz etwas mit James besprechen.«
    »Klar, Papa, nur zu!«
    Merlin blieb allein in dem Raum zurück. Direkt vor ihm befand sich das gewaltige Uhrwerk mit seinen Zahnrädern. Kleine Buntglasfenster gewährten einen Blick auf die Zeiger der berühmtesten Uhr der Welt. Merlin öffnete eines davon und streckte den Kopf hindurch. Der große Zeiger war nicht weit weg. Merlin stellte sich auf die Zehenspitzen, um ein anderes Fenster zu öffnen, vor dem sich der große Zeiger gerade befand. »Verdammt!«, murmelte er. Er war zu klein! Und obendrein drängte die Zeit! Sein Vater konnte jeden Augenblick zurückkommen, und der große Zeiger wollte nicht näher rücken. Merlin geriet in Panik. Er beugte sich wieder aus dem ersten, niedrigeren Fenster: Der Sekundenzeiger war jetzt fast auf seiner Höhe. Schnell holte er den Köcher aus seinem Rucksack und zog den Schnürsenkel aus einem seiner Schuhe. Der riesige gusseiserne Zeiger tauchte in dem kleinen Fenster auf. Merlin band den hölzernen Behälter an den Zeiger und verknotete die Schnur ganz fest. Dann sah er zu, wie sich der Behälter im Sekundentakt entfernte.
    »So, Oksa. Hier wird dich niemand finden!«, flüsterte er und schloss das kleine Fenster wieder. »Darauf gebe ich dir mein Wort!«

Das Ausmaß des Schadens
    A
ls Naftali und Brune ihr Auto am Bigtoe Square abstellten, merkten sie sofort, dass etwas vorgefallen war. Entgegen allen Sicherheitsvorkehrungen, die sie seit über fünfzig Jahren sorgfältig einhielten, lehnte sich nämlich kein anderer als der Plemplem aus dem Fenster im dritten Stock, um nach ihnen Ausschau zu halten. Dabei jammerte er so laut, dass jeder zufällig vorbeikommende Passant ihn zwangsläufig

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