Oksa Pollock. Die Entschwundenen
heiße, fünf Meter lange und dreiundvierzig Zentimeter breite Schornsteinrohr hinaufkletterte. Von dort benötigte ich fünfzehn Stunden und zwölf Minuten, um nach London, zum Bigtoe Square, zurückzukehren, indem ich die unterschiedlichsten Verkehrsmittel benutzte: Möwe, Grindwal, Schiff, Viehtransporter, Taube und Reisebus. Ich hoffe, dass mein Bericht der Alten Huldvollen und ihren Freunden von Nutzen ist.«
»Und wie, liebes Krakeel«, versicherte ihm Dragomira und ließ den Kopf an die Lehne ihres Stuhls sinken. »Und wie.«
Die unscharfe Gestalt
Z
oé konnte kaum einschlafen, so sehr hatte der Bericht des Wackelkrakeels sie aufgewühlt. Natürlich fand sie es beruhigend, dass die Treubrüchigen Marie gut behandelten und ihr Leid nach Kräften linderten. Aber das war ja auch in ihrem Sinne, sagte sie sich: Falls Marie starb, verloren sie das einzige Druckmittel, das sie hatten. Doch worüber sie sich in dieser dämmrigen Sommernacht mehr Gedanken machte, das waren die Neuigkeiten von Mortimer. Das Krakeel hatte zwar nicht viel gesagt, aber seinen Namen zu hören genügte, um sie durcheinanderzubringen. Eine Zeit lang war Mortimer für sie mehr gewesen als nur ihr Großcousin: Er, der von Natur aus ungehobelt war und die Pollocks nicht ausstehen konnte, war wie ein Bruder zu ihr gewesen und hatte ihr die Zuneigung geschenkt, die ihr seit dem Tod ihrer Eltern und ihrer Großmutter so sehr fehlte. Was für ein Widerspruch zu seiner sonstigen Art!
»Geh in dein Zimmer, Zoé, und mach dir keine Sorgen. Ich komme später zu dir.« Das waren Mortimers letzte Worte an sie gewesen. Er hatte schrecklich geweint. Kein Wunder, sein Vater war ja auch gerade vor seinen Augen pulverisiert worden! Aber trotz seines Versprechens war er nicht gekommen. Er war geflohen und hatte sie im Ungewissen gelassen. War sie ihm böse? Ein bisschen. Er hätte sie doch mitnehmen können, sie hätte sich nützlich gemacht. Stattdessen lebte sie jetzt bei den Pollocks. Und das Schicksal hatte es gut mit ihr gemeint: Alle hatten sie mit offenen Armen aufgenommen, und sie fühlte sich als vollwertiges Mitglied dieser unglaublichen Familie. Dennoch konnten sie niemals die Familie ersetzen, die sie verloren hatte. Sie dachte an ihre Großmutter. Wie würde sie reagieren, wenn die Rette-sich-wer-kann sie tatsächlich wiederfanden? Mehr denn je spürte Zoé die Last ihrer doppelten Abstammung, die sie zu einem viel widersprüchlicheren Wesen machte, als sie nach außen hin zeigte. Die Mischung aus Huldvoll, Handkräftig und Mauerwandler wirkte manchmal sehr erdrückend und stürzte sie in tiefe Zweifel. Welcher dieser Anteile in ihr war am stärksten?
Die Gedanken fuhren in ihrem Kopf Karussell. Sie dachte an Ocious, den großen Treubrüchigen, der den Untergang Edefias und des Clans der Huldvollen verursacht hatte. Dieser Mann war ihr Urgroßvater. Malorane, die leichtsinnige Huldvolle, war der andere Zweig ihres Stammbaums. Das Blut dieser beiden Berühmtheiten floss in ihren Adern … Sie seufzte verwirrt. Welche Rolle spielte sie in der ganzen Geschichte? Stand sie auf Leomidos Seite oder auf Mortimers? Musste sie sich überhaupt entscheiden? Sie wälzte sich unruhig hin und her, schleuderte ihre Decke aus dem Bett und drehte sich auf den Bauch. Ihr Herz würde sich doch sicher zu Wort melden, wenn es so weit war, oder? Im Augenblick tat es ihr allerdings nur weh. Und blieb stumm. Schließlich döste Zoé erschöpft ein. Albtraumhafte, aber auch hoffnungsvolle Bilder gingen ihr durch den Kopf, Gus’ trauriger Blick geisterte durch all ihre Träume. Sie öffnete halb die Augen und ließ sich zwischen Wachen und Schlafen treiben. Sie wusste, dass Gus so war wie sie. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft waren die düsteren Anteile in ihrem Innern bei ihnen beiden so groß, dass sie sie quälten und verunsicherten. Ihr fehlendes Selbstbewusstsein zermürbte Zoé. Eher gab sie nach und ließ Dinge über sich ergehen, als dass sie sich zur Wehr setzte und zeigte, was in ihr steckte. Und solange sie mit sich und ihrer Abstammung nicht im Reinen war, würde sich das nicht ändern, das wusste sie. Mit einem Mal lief ihr ein Kälteschauer über den Rücken, als würde ein eisiger Luftzug durch sie hindurchwehen. Von ihren finsteren Gedanken gequält, schloss sie die Augen. Und so sah sie nicht die seltsame Gestalt, die sich gerade von ihr löste, die Wand durchdrang und in der Schwärze der Nacht verschwand.
Wenige Kilometer von Zoé und dem
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