Oksa Pollock. Die Entschwundenen
nur bald aus diesem verflixten Gemälde zurückkäme!
»Hallo, Merlin!«, erklang eine schleppende Stimme hinter ihm.
Er drehte sich um und stand unvermittelt vor Hilda Richard. Das gemeine, biestige Mädchen hatte in den Ferien eine solche Wandlung durchgemacht, dass ihm die Kinnlade herunterklappte.
»Hast du dir die Haare wachsen lassen?«, fragte Hilda, die ihn aufmerksam musterte. »Steht dir gut! Und? Wie waren die Ferien?«
Verblüfft sah Merlin sie an: Die bisher total unattraktive Hilda, die ihre Mitschüler zudem ständig gepiesackt hatte, war zwar immer noch ziemlich kräftig, aber ihre Ausstrahlung war viel femininer als vorher, und sie hatte sogar blauen Lidschatten aufgelegt. Ihre kleinen, eng stehenden Augen funkelten nicht mehr boshaft, stattdessen warf sie ihm einen verführerischen Blick zu.
»Äh … ja, danke!«, sagte er verblüfft.
Das Mädchen schenkte ihm ein Lächeln, das ihn vollends aus der Fassung brachte. Es war tatsächlich das erste Mal, dass er sie freundlich erlebte! Hilda drehte sich um und entfernte sich mit einem wiegenden Gang, der ihren Faltenrock schwingen ließ. Merlin und seine Freundinnen sahen ihr verblüfft hinterher.
»Na, so was!«, rief Zelda und lockerte ihre Krawatte. »Hilda Richard hat sich in ein echtes Mädchen verwandelt! Die Ferien sind ihr anscheinend gut bekommen!«
Zoé und Merlin sahen sie mit großen Augen an, überrascht vom sarkastischen Ton ihrer sonst so gutmütigen Freundin.
»Achtung, sie kommt zurück!«, warnte Zelda Merlin und zwinkerte ihm zu.
Merlin lief knallrot an, senkte den Kopf und starrte die Grashalme zwischen den Pflastersteinen an.
»Ach, Merlin, hast du es auch schon gesehen?«, fragte Hilda in bemüht liebenswürdigem Ton. »Wir sind in derselben Klasse, und Madame Crèvecœur wird unsere Klassenlehrerin. Ist das nicht cool?«
Zelda konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, woraufhin Hilda sie mit einem überheblichen Blick bedachte. Merlin dagegen wurde furchtbar verlegen.
»Ja, echt cool«, stammelte er.
»Na dann, bis später!«, flötete Hilda und warf den beiden Mädchen neben Merlin noch einen verächtlichen Blick zu. Abrupt schulterte sie ihre Tasche und ließ die drei Freunde stehen.
»Na, du Herzensbrecher!«, sagte Zelda spöttisch zu Merlin.
»Spar dir deine Bemerkungen!«, antwortete Merlin mit feuerroten Wangen. »Ich kann ja nichts dafür! Los, gehen wir zum Klassenraum, wir wollen Madame Crèvecœur doch nicht warten lassen!«
Zoés bleischweres Herz
M
erlin, Zelda und Zoé stiegen die prächtige Steintreppe zu den Klassenräumen im ersten Stock hinauf. Vor ihnen ging eine scheinbar vollkommen verwandelte Hilda Richard nach oben, was ihre Mitschüler, die in den letzten Jahren oft Opfer ihrer Grobheit gewesen waren, zu einer Reihe von Kommentaren veranlasste. Offenbar sollte es jetzt keine fiesen Fußtritte, keine Rempeleien und vor allem keine demütigenden Situationen mehr geben. Alles, was Hilda zur meistgefürchteten Schülerin der St.-Proximus gemacht hatte, schien wie weggeblasen. Alle waren freudig überrascht, wenn auch mit Vorbehalten – vor allem Merlin. Hilda sollte erst mal beweisen, dass sie sich wirklich verändert hatte. Es schien zu schön, um wahr zu sein.
Auch Zelda hatte sich in den Ferien verändert. Das schüchterne und linkische Mädchen, das bei der geringsten Kleinigkeit zu zittern anfing, war ein Stück gewachsen und vor allem viel selbstbewusster geworden. Als die Lehrerin ihren Schülern sagte, sie könnten sich ihren Sitzplatz frei auswählen, stürzten sich alle auf die Zweiertische, um sich zusammen mit einem Freund einen Platz zu sichern. Zelda steuerte gleich auf den Tisch zu, an den Merlin sich gesetzt hatte – und er hätte schwören können, dass sie nicht zögerte, andere aus dem Weg zu schubsen. Was ist nur mit den Mädchen los?, fragte er sich verwirrt. Ob es an der Pubertät lag? Nur Zoé war unverändert: zurückhaltend, sanftmütig, traurig. Er fing ihren enttäuschten Blick auf, als sie sah, dass Zelda sich neben ihn setzte. Verlegen lächelte er Zoé an. Sie lächelte warmherzig zurück und ging dann zur ersten Reihe, wo sie sich mit gekrümmten Schultern an einen Tisch setzte. Er hatte Gewissensbisse und wollte ihr schon einen aufmunternden Brief durch die Reihen weitergeben lassen, als jemand ihm auf die Schulter tippte. Er drehte sich um und biss sich auf die Lippen. Hilda Richard, natürlich!
»Weißt du, wo die Matroschka und ihr Leibwächter hin
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