Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Brune?«
Seine Frau nickte betrübt.
»Lukas war auch ein großer Liebhaber der Kristallchemie«, erinnerte sie sich. »Er war ein Handkräftiger durch und durch. Das heißt, dass er die typischen Eigenschaften der Handkräftigen hatte, aber zehnmal so ausgeprägt, besonders diesen eiskalten Ehrgeiz, der einige von uns dazu gebracht hat, sich gegen die Macht der Huldvollen aufzulehnen. Ja, mein Mann und ich gehören diesem Volk auch an, ebenso wie ihr«, fügte sie an Jeanne und Zoé gewandt hinzu. »Und ich werde meine Abstammung bis zu meinem letzten Atemzug respektieren. Aber ich kann niemals vergessen, welch tragende Rolle unser Volk bei dem Großen Chaos gespielt hat, das Edefia ins Verderben gestürzt hat. Die Schuld daran tragen Männer wie Ocious. Oder wie Lukas.«
»Ist er gefährlich?«, fragte Zoé.
»Sehr! Das haben wir gemerkt, als das Chaos begann. Da trat Lukas’ wahres Wesen zutage, und manche haben es mit ihrem Leben bezahlt«, sagte Brune.
»Er dürfte inzwischen schon über neunzig sein«, bemerkte Dragomira.
»Auf den Tag genau dreiundneunzig Jahre, vier Monate und fünfzehn Tage!«, verkündete das Wackelkrakeel. »Seine beiden Söhne heißen Hector und Piotr, sie sind zweiundfünfzig und neunundvierzig Jahre alt. Piotr hat drei Söhne, die auf der Insel wohnen, Kaspar, Konstantin und Oskar. Ich möchte betonen, dass es derselbe Oskar ist, der zusammen mit Catarina und Gregor Eurer Wohnung einen Besuch abgestattet hat, Alte Huldvolle.«
»Tja, die neue Generation tritt wahrlich in die Fußstapfen der alten!«, sagte Dragomira mit beißender Ironie. »Hast du noch weitere Treubrüchige erkannt, liebes Krakeel?«
»Ich habe mein Bestes gegeben, doch die Angst, entdeckt und gefangen genommen zu werden, hat mich an einer gründlicheren Erkundung gehindert. Aber ich habe das Stöhnen der Goranov in einem der Räume im Untergeschoss gehört. Außerdem habe ich den Grässlon und einen Hochkopf erkannt, der in der Memothek im Huldvollen-Archiv arbeitete.«
»So was!«, sagte Naftali bitter. »War es etwa Agafon?«
»Ihr habt ein gutes Gespür! Es war in der Tat Agafon, der heute neunundachtzig Jahre, acht Monate und zwölf Tage alt ist.«
»Es sind also wirklich viele von uns aus Edefia herauskatapultiert worden«, stellte Dragomira fest. »Viel mehr als erwartet.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte das Wackelkrakeel, »ist Agafon damals in Finnland gelandet. Heute lebt er zusammen mit seinen beiden Enkelinnen, Zwillingsschwestern namens Annikki und Vilma, achtundzwanzig Jahre und siebzehn Tage alt, auf der Hebrideninsel. Das, verehrte Huldvolle, sind die Identifizierungen, die ich vornehmen konnte. Was Marie Pollock betrifft, so habe ich sie im fünften Raum des ersten Stocks vorgefunden, links des zentralen Gangs, von der Südseite des Gebäudes aus betrachtet. Ich habe mir erlaubt, in ihr Zimmer einzudringen.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Dragomira besorgt.
»Die Treubrüchigen behandeln sie gut, und ihr Zimmer ist bequem. Allerdings wütet die Robiga nervosa leider weiterhin in ihrem Nervensystem. Doch ich habe gesehen, wie Agafons Enkelin Annikki, die Krankenschwester ist, ihr Wurmiculum-Spritzen gab. Das schien der Kranken Linderung zu verschaffen. Annikki sorgt gut für sie, denn sie weiß, dass sie die Mutter der Jungen Huldvollen ist, und respektiert sie deswegen, trotz ihrer Treubrüchigkeit. Dennoch hilft die gute Pflege nicht gegen Maries Sorgen: Die Gefangenschaft und das Fehlen von Neuigkeiten über ihre Lieben setzen ihr sehr zu.«
Das Wackelkrakeel schaukelte vor Erregung hin und her.
»Beim Anblick ihres Kummers habe ich die Gefahr auf mich genommen, mich ihr zu nähern«, erzählte es weiter. »Ich habe zwei Stunden und dreiundvierzig Minuten gewartet, bis Annikki hinausging, und mich dann ins Zimmer geschlichen. Die Mutter der Jungen Huldvollen hat bei meinem Anblick große Freude gezeigt. Ich habe ihr die Lokalisierung ihrer Gefangenschaft mitgeteilt und die Zusicherung, dass die Rette-sich-wer-kann ihre Kräfte bündeln würden, um sie zu befreien. Sie bat mich, Euch vor der Übermacht der Treubrüchigen zu warnen und Euch auszurichten, dass Ihr absolut kein Risiko eingehen dürft. Dann kam Annikki zurück und ließ sich im Zimmer nieder. Ich musste mich unterm Bett verstecken, wo ich eine Stunde, achtzehn Minuten und drei Sekunden wartete, bevor ich endlich fliehen konnte. Ich entkam, indem ich zum Kamin robbte und das verrußte, zweiundfünfzig Grad
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