Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
Plemplem blieb nichts anderes übrig, als seiner jungen Herrin auf den Balkon zu folgen und sich von ihr huckepack nehmen zu lassen. Dann sprach Oksa leise die Formel aus, die ihr zur Unsichtbarkeit verhelfen sollte:
Mit Granuk-Kraft
Ergieß deinen Saft!
Befreie die Invisibellen,
Um meine Sichtbarkeit zu verstellen.
Paradoxerweise stellten ihre glühendsten Anhängerinnen das erste Hindernis dar, das Oksa überwinden musste. An der einzigen Pforte der Ägide angekommen, musste sie brav warten, bis die Sensibyllen ihr Urteil gefällt hatten.
»Das kostet mich jede Menge Zeit«, stöhnte die Junge Huldvolle. »Wo ich doch sowieso nur aus der Goldenen-Mitte herauswill , wen schert es denn da, ob meine Absichten gut oder böse sind?«
»Meine Huldvolle darf nicht der Versuchung begegnen, die Vorschriften zu vernachlässigen«, sagte der Plemplem in der Hoffnung, seine Herrin zu beruhigen.
»Du hast wie immer recht«, seufzte sie. »Alle müssen sich der Prüfung unterziehen, beim Rausgehen wie beim Reingehen. So sind die Regeln. Ich hoffe bloß, dass sie mich nicht verraten. Wenn die bei meinem Vater oder Abakum petzen, dann blüht mir was.«
»Haltet diese Befürchtung fern von Eurem Geist, meine Huldvolle. Die Sensibyllen vollziehen die Prüfung des Herzens, nicht die Kontrolle der Identität. Außerdem kennen sie den Gehorsam des Schweigens der Spezialisten.«
»Willst du damit sagen, dass sie eine berufliche Schweigepflicht einhalten?«
»Die Korrektheit ziert die Worte meiner Huldvollen«, bestätigte der Plemplem. »Keine Information wird die Preisgabe erleiden, denn nur meine Huldvolle persönlich verfügt über die Macht, das Schweigen der Spezialisten zu brechen.«
»Aha.«
Wie sich zeigte, zögerten die Sensibyllen sowieso keinen Augenblick, sie durchzulassen. Ohne ihr Geschwätz zu unterbrechen, öffneten sie die Pforte, und Oksa flog davon. Und was für ein befreiendes Gefühl das war, nach dem langen Eingesperrtsein unter dem Schutzschild!
Zum ersten Mal hatte sie die Berge von Steilfels vom Rücken des Tintendrachen aus gesehen. Das war vor vielen Wochen gewesen, und damals war sie von Ocious und seinen verhassten Söhnen hergeführt worden. Oksa wurde ganz übel, wenn sie daran dachte: Zoé hatte sich geopfert, Tugdual war verschwunden, und sie selbst war in Trauer versunken.
Als sie die ersten Gipfel vom Steilfels vor sich auftauchen sah, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Die Felszacken zeichneten sich am Horizont ab wie ein riesenhaftes Gebiss, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen. Der Regen hatte die Felsen rein gewaschen, und jetzt glänzten sie umso prachtvoller im Licht der untergehenden Sonne. Oksa musste ihre Sonnenbrille aufsetzen, um nicht von dem vielfarbigen Funkeln geblendet zu werden, das wie ständige Eruptionen von dem Gestein ausging. Inzwischen war die Schlucht vor ihr aufgetaucht, die den Eingang zum Landstrich der Handkräftigen markierte, und Oksa erstarrte: Trotz des grellen Lichts entgingen ihr die Unheil bringenden Schatten in den Nischen der Felswände nicht: Scharen von Totenkopf-Chiroptern.
»Wie grauenvoll!«, rief sie. »Auf keinen Fall fliege ich zwischen diesen ekelhaften Biestern durch!«
»Ihr könnt sie umgehen, meine Huldvolle«, teilte ihr das Wackelkrakeel mit, das auf ihrer Schulter saß. »Dazu müsst Ihr um dreißig Grad von Eurem gegenwärtigen Kurs abweichen. Dort gibt es eine Einkerbung, die in eine verlassene Schlucht führt.«
»Eine verlassene Schlucht? Nun ja, das hört sich zumindest besser an als das hier!«, rief Oksa mit einem letzten Blick auf die Schwärme von Insekten.
Doch dann bremste sie verdutzt ab.
»Ich habe allerdings nicht die leiseste Ahnung, was es bedeutet, dass ich ›um dreißig Grad von meinem gegenwärtigen Kurs abweichen‹ soll«, stellte sie fest. »Mathematik war noch nie meine Stärke, weißt du …«
Das Wackelkrakeel bewegte seine Hummelflügel und ließ sich von einer Schicht Invisibellen bedecken, dann flog es vor seiner jungen Herrin her.
»Lasst mich vorausfliegen.«
Oksa musste sich mächtig anstrengen, um ihrem kleinen Kundschafter folgen zu können. Der unsichtbare Tross steuerte schließlich direkt auf zwei hohe Gipfel zu, die wie zwei riesige spitze Zähne nebeneinanderstanden.
»Weißt du auch wirklich, was du tust?« Oksa konnte sich die Frage nicht verkneifen, denn sie sah nicht die geringste Lücke zwischen den beiden Berggipfeln.
Erst unmittelbar vor der Felswand ging ihr auf,
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