Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

einsog.
    »Ich nehme einen verstärkten Metallgeruch in fünfunddreißig Grad nordwestlicher Richtung wahr«, verkündete es nach ein paar Sekunden.
    Es flog in einen Gang mit violettfarbenen Edelsteinen, und zwar so schnell, dass Oksa Mühe hatte, ihm mit dem watschelnden Plemplem zu folgen. Schließlich nahm sie ihren Haus- und Hofmeister wieder auf den Rücken und rannte hinter dem Krakeel her. In diesem Teil des Höhlensystems hielten sich mehr Treubrüchige auf, und so begegneten ihnen immer wieder kleinere Gruppen von Männern und Frauen. Die Nachricht von Ocious’ Tod hatte sich in Windeseile verbreitet, und es gab viel entsetztes Geflüster und Getuschel.
    »Das kann dir egal sein, Oksa-san«, ermahnte sie sich. »Schnell, weiter!«
    Am Ende des violetten Gangs und nach einer ganzen Reihe von Abzweigungen fanden sich die drei Eindringlinge vor einer Mauer aus einem schwarzen kristallartigen Stein wieder.
    »Bist du sicher, dass der Schrank hier ist?«, fragte Oksa das Krakeel, das jetzt auf der Stelle flatterte.
    »Absolut, meine Huldvolle!«, beteuerte es. »Er befindet sich in einer Entfernung von zwei Metern vierzig vor Euch und siebenundzwanzig Grad links von Euch.«
    »Mit oder ohne Mauer?«, fragte Oksa gereizt.
    Ohne sich von der Frage beirren zu lassen, führte das Wackelkrakeel seine Inspektion durch und teilte ihr kurz darauf das Ergebnis mit:
    »Die zweiunddreißig Zentimeter der Mauer sind in den zwei Metern vierzig, die Euch von dem Metallschrank trennen, bereits eingeschlossen.«
    »Eine zweiunddreißig Zentimeter dicke Mauer«, seufzte Oksa. »Na, wenn’s weiter nichts ist! Und ich schätze mal, dass es hier keine Tür gibt, sondern dass man diese extradicke Mauer durchqueren muss, wenn man in den dahinterliegenden Raum will …«
    »Meine Huldvolle begegnet der drängenden Notwendigkeit, zur Anwendung ihrer mauerwandlerischen Konstitution zu schreiten«, schaltete sich der Plemplem von Oksas Rücken aus ein.
    »Das ging mir auch gerade durch den Kopf«, gab Oksa zurück und warf die Haare nach hinten. »Na schön. Dann muss es diesmal eben funktionieren. Ohne Wenn und Aber.«
    Sie setzte den Plemplem auf dem Boden ab und tätschelte ihm tröstend die Schulter.
    »Hört zu, wir machen es so: Ich muss mich von meiner Invisibellen-Schicht befreien, um durch die Mauer zu gehen, und vor allem, um das Fläschchen holen zu können. Solange ich substanzlos bin, geht das nicht. Aber ich muss die Invisibellen bei mir haben, man weiß ja nie, was passiert. Ich lasse euch beiden ebenfalls genug davon da, damit ihr geschützt seid, falls jemand auftaucht. Und dann wartet ihr hier ganz brav auf mich, einverstanden?«
    Die beiden Geschöpfe nickten.
    »Liebes Krakeel, ist hinter der Mauer irgendjemand?«
    »Nichts und niemand!«, versicherte das Krakeel.
    »Dann also bis gleich«, sagte sie und legte ihren Schutzmantel ab.
    Oksa konzentrierte sich wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
    »Denk an Gus«, wiederholte sie im Geiste immer wieder. »Denk an Gus … Wenn du dieses Fläschchen nicht bekommst, muss er sterben. Also los, mach schon, Oksa-san!«
    Als sie zur Hälfte in den Stein eingedrungen war, hätte sie am liebsten vor Freude gejubelt. Der Plemplem schien sie von hinten anzuschieben, um ihr zu helfen und sie anzuspornen. Und was das Anspornen anging, fiel ihr dazu auf einmal ein Satz ein, den dieser seltsame Wurzelkopf damals in dem verzauberten Gemälde zu ihr gesagt hatte: »Eure Schritte führen euch an den Ort, den sich euer Wille zum Ziel gesetzt hat.« Wie wahr! Mit purer Kraft konnte man wenig ausrichten, bloß die Muskeln anzuspannen, half nicht viel. Der Erfolg lag woanders: im Kopf und im Herzen. Als Oksa dieses Prinzip verinnerlicht hatte, kam sie ohne Weiteres durch die Mauer hindurch. Die Wand aus Kristall schien in einen gasförmigen Zustand überzugehen und bot keinerlei Widerstand mehr. Oksa drang in die Materie ein, schweißgebadet, aber siegesgewiss und wild entschlossen.
    Der Raum dahinter war winzig, und die niedrige Decke trug zusätzlich zu seiner beklemmenden Atmosphäre bei. Eine einzige Fackel verbreitete ein schummriges Licht. Und der Metallschrank stand genau da, wo das Wackelkrakeel gesagt hatte. Oksa erkannte ihn sofort wieder mit seinen fünf Reihen von je sechs Schubfächern, jedes davon mit einem Ring als Griff. Was für ein Segen, dass man seine Gedächtnisleistung mit einem Exzelsior-Befähiger steigern konnte, dachte sie erleichtert. Oksa wollte gerade auf die