Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
mittlere Reihe der Schubfächer zusteuern, in die Ocious, wie sie sich erinnerte, das Fläschchen gelegt hatte, als plötzlich in der Nähe Stimmen ertönten.
Oksa konnte gerade noch die Formel aussprechen, die ihre Invisibellen freisetzte, dann ging auch schon eine Tür an der gegenüberliegenden Wand auf. Im grellen Licht einer Phosphorille betrat Mortimer den Raum, gefolgt vom letzten Durchscheinenden.
Unerwartete Unterstützung
K
aum war das ekelhafte Wesen hereingekommen, stank es im ganzen Raum nach einer abstoßenden Mischung aus Knoblauch, faulem Ei und Staub – niemals hätte Oksa diesen widerwärtigen Geruch vergessen können! Unter der durchsichtigen, mit einer Fettschicht überzogenen Haut waren seine schwarzen Adern und das übergroße pochende Herz zu sehen. Dass es plötzlich anfing, schneller zu schlagen, entging Oksa ebenso wenig wie das Beben der zurückgebildeten Nasenschlitze. Sie presste sich an die Wand, während der Durchscheinende immer erregter wurde und schnuppernd umherging.
Mortimer versuchte gerade, ein Schrankfach zu öffnen. »Was ist?«, brummte er.
»Liebe! Ich rieche den Duft der Liebe«, antwortete der Durchscheinende mit seiner heiseren Stimme.
Oksa verharrte bewegungslos. Der Furcht einflößende Schnüffler musste über einen ganz außergewöhnlichen Geruchssinn verfügen, wenn er ihre Anwesenheit sogar unter ihrer Schutzschicht aus Invisibellen erschnuppern konnte! Das war weder den Hellhörigen noch den gewieftesten Handkräftigen gelungen.
»Du bist ekelhaft«, sagte Mortimer, »ganz und gar widerwärtig.«
Der Durchscheinende ließ sich von Mortimers Kommentar nicht die Laune verderben. »Aaah! Herrlich! In diesem Raum ist jemand. Jemand, der ungeheuer verliebt ist. Sein voller, süßer, herrlicher Duft steigt mir in die Nase.«
»Ich bin es jedenfalls nicht!«, entgegnete Mortimer und machte sich an einem zweiten Fach zu schaffen. »Sag mir lieber, wo sich dieses Fläschchen befindet, anstatt irgendwelchen Unsinn zu erzählen.«
»Mein Meister Ocious hat mir befohlen, auf dieses Fläschchen achtzugeben«, sagte der Durchscheinende, dessen Nasenschlitze immer noch zuckten. »Ich sage also noch einmal, dass Ihr nicht das Recht habt, darüber zu verfügen.«
Mortimer wandte sich zu ihm um und sah ihn gebieterisch an.
»Du weißt doch, dass Ocious tot ist«, sagte er in festem Ton.
Seine Stimme verriet keinerlei Schwäche. Angesichts dessen, was erst vor wenigen Minuten geschehen war, wunderte sich Oksa über Mortimers Selbstbeherrschung. Seine tiefschwarzen Augen strahlten eine Autorität aus, die keinen Widerspruch duldete.
»Mein Vater ist der neue Meister«, sagte er mit Nachdruck, »und somit auch deiner. Er hat mich hierhergeschickt, um das Fläschchen zu holen. Du kennst ihn doch und willst bestimmt nicht sein Missfallen erregen, hab ich recht? Oder dich gar seinen Befehlen widersetzen?«
Der Durchscheinende knurrte bloß und schüttelte den Kopf. Oksa wurde ganz übel von dem widerlichen Gestank, der bei jeder seiner Bewegungen intensiver wurde.
»Dort unten«, sagte er endlich, hob den fleischlosen Arm und zeigte zum unteren Teil des Schranks. »Ihr müsst das Kombinationsschloss erst eine halbe Drehung nach links bewegen, dann eine Vierteldrehung nach rechts, drei Achtel nach links und schließlich zwei Fünftel nach rechts.«
Mortimer bückte sich und griff nach dem Schloss, auf das der Durchscheinende gezeigt hatte. Er befolgte die Anweisung, und das kleine Fach sprang auf. Bläulicher Dampf stieg daraus auf, dann kam das Fläschchen zum Vorschein.
Nicht Tollkühnheit trieb Oksa dazu, sich zu zeigen, sondern schiere Verzweiflung. Als sie sah, wie Mortimer die Flüssigkeit in den Händen hielt, an der Gus’ Leben hing, hielt sie es nicht mehr aus.
Mit Granuk-Kraft
Zurück in den Schaft!
Sammle ein die Invisibellen,
Um meine Sichtbarkeit wiederherzustellen.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils waren die Kaulquappen in ihrem Granuk-Spuck verschwunden.
»Oksa!«
Mortimer starrte sie fassungslos an.
»Was machst du hier? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist?«
»Gib mir das Fläschchen, Mortimer!«
Oksa hatte ihre Kampfpose eingenommen und hielt das Granuk-Spuck in der Hand. Sie zitterte vor Aufregung und hätte Mortimer um ein Haar angegriffen, als der ihr, zu ihrer großen Überraschung, das lebenswichtige Fläschchen einfach überreichte.
»Ich wollte es sowieso nur für dich holen«, sagte er ruhig.
Oksa riss ihm das Fläschchen
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