Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
ihre Freude. »Allerdings hatten wir den Überraschungseffekt auf unserer Seite, und so wurde die Lage für Ocious und seine Söhne ziemlich heikel. Den Knuts und den Bellangers ist es gelungen, aus ihren Wohnungen zu entkommen und Remineszens und Zoé zu Hilfe zu eilen, die Andreas mit einigen Männern gerade gewaltsam wegbringen lassen wollte. Zoé konnte ihnen entwischen, aber unsere geliebte Remineszens ist leider immer noch in ihren Händen.«
Abakums Gesichtszüge veränderten sich kaum merklich. Oksa legte ihre Hand auf seine.
»Wir werden sie ganz bestimmt bald wiedersehen«, murmelte sie. »Sie ist Ocious’ Tochter, ihr wird nichts geschehen!«
»Leider bin ich mir da nicht so sicher wie du, meine Kleine«, antwortete er mit leiser Stimme.
Er wirkte so gequält, dass es Oksa fast das Herz brach. Abakum hatte sein ganzes Leben in den Dienst der anderen gestellt, hatte ohne Unterlass über Dragomira und ihre Familie gewacht und dafür auf ein eigenes Liebesleben verzichtet. Remineszens war seine wahre und einzige Liebe. Eine Liebe, die er nie offen eingestanden hatte und die immer unerfüllt geblieben war, weil Remineszens sich als junge Frau in Leomido verliebt hatte und später die Liebsten-Entfremdung erdulden musste. Doch Abakums Gefühle für sie hatten nie nachgelassen. Trotz der jahrzehntelangen Trennung und der schwindenden Hoffnung auf ein Wiedersehen liebte der Feenmann Remineszens auch heute noch. Alle wussten das und respektierten die Unauslöschlichkeit dieser stillen Liebe. Oksa drückte seine Hand, und Abakum schüttelte leicht den Kopf, als ob er aus den Abgründen seiner Gedanken wieder auftauchte.
»Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass alle entkommen, doch es war ein harter Kampf. Als dein Vater mit seinem Tintendrachen erschien und die Balkonfenster zerschmetterte, habe ich den Kapiernix gepackt und mich mit ihm auf Pavels Rücken geflüchtet. Die Rette-sich-wer-kann kämpften mit vollem Einsatz: Naftali und unsere Verbündeten beschützten Zoé vor Orthons Angriffen – die Handkräftigen mit ihrer animalischen Kraft und die Silvabulaner mit ihrem Pflanzenwissen. Die einen setzten ihre Hände als Fänge und ihre Körper als Waffen ein, die anderen zogen aus ihren Umhängebeuteln Netze und Zerstäuber mit äußerst schädlichen Pflanzenkonzentraten. Dann sah ich, wie Tugdual die Geschöpfe in meine Boximinor füllte, während Brune und die Bellangers ihm Deckung gaben. Das war eine großartige Idee und sehr mutig von ihm: Die Geschöpfe stellen einen unschätzbaren Vorteil für uns dar, und es war Ocious’ zweiter großer Fehler, sie uns zu lassen. Nun, umso besser für uns! Tugdual warf mir die Boximinor durch das eingeschlagene Fenster zu und verschwand in dem ganzen Durcheinander. Der Drache hielt weiterhin Ocious’ Wachen mit seinen Feuersalven in Schach und fing dabei Hunderte von Granuks ab. Doch wir konnten unsere Stellung nicht mehr länger halten, wir mussten uns zurückziehen. Diejenigen unserer Freunde, die nicht vertikalieren können, sprangen auf den Rücken des Drachen, darunter auch Zoé. Dann tauchte Pierre auf. ›Ihr müsst fliehen! Sofort!‹, schrie er. Schweren Herzens flog der Drache los, gefolgt von einer Schar von Vertikalierern, die aus unseren Freunden und den verbündeten Handkräftigen, aber auch aus Ocious und seinen Männern bestand. Es war unmöglich, Granuks auf sie abzufeuern, ohne unsere eigenen Leute zu gefährden.«
»Was ist aus den übrigen Rette-sich-wer-kann geworden?«, fragte Oksa angespannt.
»Orthon ist es trotz unserer hartnäckigen Attacken gelungen, sie erneut in seine Gewalt zu bringen«, brachte Abakum schließlich heraus. »Naftali konnte sich noch eine Weile an den Drachen hängen, doch dann hat ihn Ocious mit einem Lähmungsgranuk erwischt, und er ist abgestürzt. Ocious brauchte ihn nur noch aufzusammeln.«
»Und Brune und Jeanne? Und Helena? Und der kleine Till? Und die Fortenskys?«, fragte Oksa.
»Sind alle wieder gefangen …«
Oksa rang nach Luft.
»Aber … sie sind doch am Leben?«
»Unseren kleinen gefiederten Informanten nach geht es allen so weit gut. Einige sind verletzt, aber ihr Leben ist nicht in Gefahr.«
Trotz seines beschwichtigenden Tonfalls machte Oksa ein skeptisches Gesicht.
»Das könnte sich aber ändern, oder?«, fragte sie.
Als sie sah, wie Tugdual zusammenzuckte, biss sie sich auf die Lippen.
»Natürlich kann sich das ändern. Ocious kann jeden Augenblick beschließen, sie alle zu
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