Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
töten«, sagte er leise.
»Ocious oder Orthon«, fügte Abakum hinzu und blickte dann rasch zu Boden.
Sanftes Erwachen
O
ksas erste Nacht in Laubkroning war ebenso außergewöhnlich wie erholsam. In einer Erdhöhle zwischen den Wurzeln eines riesigen Baums zu schlafen, war wirklich etwas Besonderes, dabei konnte Oksa mittlerweile schon auf eine ziemlich lange Liste eigenartiger Erlebnisse zurückblicken. Ihre Gastgeber hatten eine besondere Fürsorglichkeit an den Tag gelegt und sie in einem Raum mit einem Himmelbett untergebracht. Es war mit einem feinen grauen Leinenstoff verhangen und hatte eine purpurrote Bettdecke. Außerdem stand ein kleines Tischchen mit einer silbernen Waschschüssel und einem winzigen Spiegel darüber in dem Raum, und auf einer Bank – einer Baumwurzel – lagen ein paar Kleidungsstücke. Doch Oksa war viel zu müde, um auch nur einen einzigen Gedanken ans Waschen oder Umziehen zu verschwenden. An der Decke hing eine Phosphorille und verbreitete mit ihren sanften Bewegungen ein beruhigendes Licht. Oksa ließ sich in ihren Kleidern aufs Bett fallen. Jegliche bedrückenden, klaustrophobischen oder beängstigenden Gefühle verflüchtigten sich, und sie sank im Nu in tiefen Schlaf.
Als sie wieder aufwachte, wusste sie zwar gleich, wo sie war, doch ihr war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. War es noch Nacht oder bereits Tag? Hatte sie zwei Stunden geschlafen oder zwölf? Nur eines war sicher: Sie fühlte sich vollkommen erholt. Sie stieg aus ihrem weichen Bett und unterzog ihr Äußeres einer genaueren Inspektion.
»Hm … nicht gerade der Hit«, brummte sie, während sie Ausschnitte ihres Gesichts in dem winzigen Spiegel betrachtete.
Ihre Gesichtszüge wirkten hager, unter den Augen waren dunkle Schatten, und ihre Haare waren zerzaust. Als sie sich über die Wangen strich, blieben schwarze Streifen darauf zurück. Und was ihre Kleider anging, so hatte die hautnahe Begegnung mit den Invisibellen deutliche Spuren hinterlassen.
»Ich sehe echt schrecklich aus«, seufzte sie.
Unwillkürlich musste sie an Tugdual denken. Wie schaffte er es nur, immer so unwiderstehlich zu wirken? Egal, wie die Umstände waren, er sah immer absolut perfekt aus. »Wahrscheinlich stammt er von einem anderen Planeten«, sagte sie zu sich selbst und musste dann über diesen absurden Gedanken lachen. »Sagen wir, er ist noch ein bisschen übernatürlicher als alle anderen hier.«
»Was ist denn so lustig, meine Junge Huldvolle?«, ertönte auf einmal eine wohlbekannte Stimme hinter ihr.
Oksa drehte sich um und wurde rot, als sie Tugdual lässig an der Wand lehnen sah. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete sie ungeniert, wobei dieses unnachahmliche kleine Lächeln um seine Mundwinkel spielte.
»Ach, ich habe nur gerade festgestellt, wie jämmerlich ich aussehe, vor allem im Vergleich zu dir«, erwiderte sie, weil ihr spontan keine Notlüge einfiel. »Aschenputtel und der schöne Prinz oder so was in der Art, verstehst du?«
Tugdual kam geschmeidig wie eine Katze auf sie zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und gab ihr einen flüchtigen Kuss.
»Aschenputtel, sagst du«, seufzte er und musterte sie von oben bis unten.
»Hör auf, mich so anzusehen«, murmelte Oksa nervös.
Aber Tugdual hörte überhaupt nicht auf sie, sondern nahm ein Tuch zur Hand, tauchte es in die Wasserschüssel und fing an, Oksa behutsam das Gesicht abzuwischen.
»Das riecht gut«, flüsterte sie.
Dass Tugdual so dicht bei ihr stand, machte sie fast verrückt.
»Nobilis-Essenz«, murmelte Tugdual. »Wenn du willst, zeige ich dir eine Stelle, wo sie zu Hunderten wachsen.«
Oksa nickte. Ihre erste »Begegnung« mit einer Nobilis fiel ihr wieder ein. Das war in Abakums geheimem Silo gewesen, und die Pflanze hatte vor Vergnügen gegluckst und sie mit ihren Blütenblättern gestreichelt. Währenddessen wischte ihr Tugdual über den Nasenrücken, die Augenlider, die Finger, und sie sehnte sich brennend danach, dass er sie küsste. Doch er tat es nicht, sondern strich ihr nur zärtlich über die Wange.
»Jetzt kannst du die Sachen hier anziehen«, sagte er und zeigte auf die ausgelegten Kleidungsstücke. »Ich warte nebenan auf dich.«
Er ging hinaus und zog hinter sich den Vorhang zu, der das Zimmer von der restlichen unterirdischen Wohnung abtrennte. Es fiel Oksa nicht schwer, ihre schmutzigen Jeans und das fleckige Shirt auszuziehen und in die angenehm frisch duftende Hose und eine kurze
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