Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
gewaschenen Jeans, weißem Hemd und ihrer lässig gebundenen Schulkrawatte – ihrem persönlichen Talisman – ganz oben den amphitheaterähnlichen Saal betrat. Sie ließ den Blick über die im Halbkreis angeordneten Sitzreihen schweifen, und die Erinnerung an ihren letzten Besuch an diesem Ort drängte sich ihr auf, als wäre es gestern gewesen. Damals hatte Ocious sie im Kreis seiner schrecklichen Söhne und seiner Verbündeten hier »willkommen geheißen«. Heute hatte sie in diesem beeindruckenden, symbolträchtigen Raum nichts zu befürchten. Das bestätigten ihr die Blicke, die auf ihr ruhten und die nichts als Respekt und Wohlwollen ausdrückten.
In vollkommener Stille machte sie sich auf den Weg nach unten. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Kopf jedoch stolz erhoben. Während sich die Menschen rechts und links von ihr verneigten, stieg sie die Stufen hinunter. Sie konnte niemandem ins Gesicht sehen. Erst als sie zum Podium am anderen Ende des Saals gelangt war und sich umdrehte, erblickte sie in der ersten Reihe die Rette-sich-wer-kann. Ihren Vater, Abakum, Zoé, Tugdual, die Geschöpfe … Alle waren sie da, mit strahlenden Gesichtern, aber auch ergriffen, und der Stolz, den sie in ihren Augen sah, verlieh ihr eine unbeschreibliche Energie.
In dieser feierlichen Atmosphäre tauchte plötzlich der goldene Lichthof der Alterslosen Feen in dem zylindrischen Lichtschacht auf, durch den sich ein Lichtkegel in den riesigen Saal ergoss. Während die Alterslosen auf Oksa zuschwebten, hielt diese gespannt Ausschau, obwohl sie im Grunde wusste, dass ihre Hoffnung vergeblich sein würde: Dragomira, ihre geliebte Baba, war nicht dabei. Sie fehlte ihr so sehr. Ihre Anwesenheit an diesem besonderen Tag wäre so tröstlich für sie gewesen.
»Beruhige dich, meine liebe Kleine«, hauchte eine Stimme, in der sie die von Malorane erkannte. »Dragomira ist für immer und ewig bei uns.«
Malorane hielt ihr auf der geöffneten Hand eine winzige, vielfarbige Kugel hin, die sich, indem sie sich entfaltete, als ihr Umhang mit den atemberaubenden Stickereien entpuppte. Oksa ließ ihn sich um die Schultern legen, und sofort durchströmte sie wieder dieses unglaubliche Gefühl wie schon in der Kammer des Umhangs. Ein bewunderndes Raunen ging durch die Reihen. Jemand fing an zu klatschen, andere fielen ein, und schließlich war der ganze Saal von tosendem Beifall erfüllt. Oksa biss sich auf die Lippen, ließ sich aber doch von der Hochstimmung anstecken. Mit einem strahlenden Lächeln deutete sie auf ihren Vater und Abakum. Beide kamen zu ihr auf das Podium, und der Applaus brandete erneut auf. Sie ließ den Blick durch den voll besetzten Saal schweifen, von den untersten Stufen bis zu den obersten Rängen. Überall schillerte das Licht in changierenden Farben. Sie sah den Plemplem in seiner schönsten Latzhose und den Kapiernix, dessen verständnisloser Gesichtsausdruck noch drolliger war als sonst.
Die Stimme einer Alterslosen Fee ertönte: »Die Stunde ist gekommen, Euer Pompament aufzustellen, Unsere Huldvolle. Möget Ihr eine weise Wahl treffen, und möge Eure Entscheidung von allen respektiert werden!«
Nach diesen Worten zog sich der helle Lichthof langsam zurück und verschwand schließlich durch den Lichtschacht.
»Ich glaube, du solltest eine Rede halten, mein Schatz«, flüsterte Pavel seiner Tochter ins Ohr.
Oksa warf ihm einen erschrockenen Blick zu.
»Oh, nein, bloß nicht!«, stöhnte sie.
»Nur ein paar Worte.«
Ihr Vater stieg die Stufen hinunter und setzte sich wieder in die erste Reihe. Oksa räusperte sich, holte tief Luft – und sprang ins kalte Wasser. »Na los, Oksa-san, denk nicht nach, sondern lass dein Herz sprechen, und es wird schon gut gehen!«, sagte sie sich, um sich Mut zu machen.
»Nun«, fing sie an, »es ist eine große Ehre für mich, als eure Neue Huldvolle auserwählt worden zu sein. Seit ich von meiner Abstammung und eurer Existenz erfahren habe, ist mein Leben völlig auf den Kopf gestellt worden. Mit einem Mal war es aufregend, kompliziert und gefährlich. Doch gleichzeitig wurde ich in eine außergewöhnliche Dimension katapultiert: in die Welt der Magie. Und so etwas ist nicht jedem vergönnt. Trotzdem war es nicht einfach, zu euch zu gelangen – nicht in der Vorstellung und noch viel weniger in der Wirklichkeit. Und auch wenn meine Freunde und ich viel aufgeben mussten, um hierherzukommen, weiß ich, dass es notwendig war und wie viel es euch bedeutet. Ich habe verstanden,
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