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Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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es also, was die beiden miteinander verband. Doch mit dieser Erkenntnis drängte sich Oksa ein anderer Gedanke auf: Keine Sekunde lang hatte sie sich damals gefragt, warum Kukka, die Enkelin zweier Von-Drinnen, nicht nach Edefia gelangt war. Das Einzige, worüber sie sich Gedanken gemacht hatte, war ihre Beziehung zu Tugdual und dann ihre Beziehung zu Gus gewesen. Sonst nichts.
    »Du kannst dich also an die Zeit vor deiner Adoption erinnern?«, sagte Gus.
    »Ein bisschen, aber nur vage. Olof und Lea waren so tolle Eltern, dass es mir ganz leichtgefallen ist, zu vergessen, was davor war.«
    »Was dir zugestoßen ist, ist aber auch schrecklich.«
    »Da hast du recht«, murmelte Kukka.
    Ihr Blick verschleierte sich, und sie wartete einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Und du? Kannst du dich an etwas erinnern?«
    »Nein. Ich war noch ein kleines Baby, als meine Eltern in diesem chinesischen Waisenhaus aufgetaucht sind. Ich habe nur sie gekannt.«
    Die beiden schwiegen lange Zeit.
    »Glaubst du, dass wir sie je wiedersehen werden?«
    »Nein.«
    Oksa gefror das Blut in den Adern. Hatte Gus allen Mut verloren? War er so verzweifelt? Sie musste etwas unternehmen. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie versuchte sich zu entspannen und überließ ihrem Anderen Ich völlig die Führung.
    Gus riss die Augen auf, und ein heftiger Schauder durchlief ihn. Kukka löste sich von ihm und sah ihn bestürzt an.
    »Was hast du?«, stammelte sie.
    »Oksa ist da …«
    Abrupt setzte Kukka sich auf.
    »Gus!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Hör auf damit! Sie kann nicht da sein!«
    Doch schon umhüllte das Andere Ich den Jungen mit einer unleugbaren, so deutlich spürbaren Sanftheit, als wäre Oksa körperlich anwesend.
    »Sie ist da«, wiederholte er mit völlig verwandeltem Ausdruck.
    Kukka machte aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl und sah ihn zutiefst gekränkt an. Dann stand sie auf und verließ mit finsterer Miene den Raum.
    »Oksa, wenn du mich hören kannst, tu was!«, flehte Gus.
    Oksa konzentrierte sich aufs Äußerste und versuchte angestrengt, eine Bewegung, einen Atemzug, eine Geste zu machen. Es war ihr gelungen, Gus ihre Anwesenheit spüren zu lassen, was bereits ein Wunder war, also musste es doch möglich sein, noch mehr zu erreichen! Sie bemerkte die Krawatte, die der Junge, genau wie sie, offenbar nicht ablegte, und sie sah sich das Ende in die Hand nehmen und daran ziehen. Das bisschen Stoff fühlte sich schwerer an als ein Betonklotz. Schweißüberströmt und völlig entmutigt fand sie sich weinend in ihrem Bett in der Gläsernen Säule wieder. Aber vielleicht war es ja besser so?
    Vielleicht war eine Hoffnung, die ohnehin vergeblich bleiben musste, noch schlimmer, als jede Hoffnung aufzugeben?
    Und so ergab sie sich schmerzerfüllt dem Willen ihres Anderen Ichs, ließ zu, dass es Gus ein letztes Mal umarmte, und spürte, wie Freude und Traurigkeit zugleich sie durchströmten. Erst Sekunden später, als sie ihren Freund leise »Danke« murmeln hörte, begriff sie, dass ihre Bemühungen doch nicht vergeblich gewesen waren.
    Gus war von dem Kontakt mit Oksa aufgewühlt, aber auch irgendwie getröstet. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich dazu durchringen konnte, ihr Zimmer zu verlassen. Dabei folgte ihm, ohne dass er es merkte, das Andere Ich der Neuen Huldvollen hinauf in die oberste Etage.
    In Dragomiras Streng-vertraulichem-Atelier herrschte Zwielicht. Nur eine kleine Öllampe brannte in einer der vielen Nischen an den Wänden und tauchte den Raum, der zum Schlafzimmer umfunktioniert worden war, in gelbliches Licht.
    Oksa sah, wie Gus sich mit einem tiefen Seufzer ins Bett legte. Dank ihres Anderen Ichs streifte sie ihn ein letztes Mal und versprach ihm, bald wiederzukommen. Dann versuchte sie herauszufinden, in welchem der sechs anderen Betten ihre Mutter lag. Das war nicht weiter schwer: Der Rollstuhl war ein sicheres Indiz. Marie Pollock lag in dem Bett, das früher einmal Dragomira gehört hatte, auf der Seite und schlief. Wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt bettete Oksa ihren Kopf auf das Kissen und betrachtete sie. Selbst im Schlaf wirkte ihre Mutter krank. Ihre Haut sah im schwachen Licht wächsern aus, und sie war sicher, dass es bei Tageslicht noch schlimmer sein würde. Sie streckte die Hand aus und streichelte Maries Haare, die ihr rauer und weniger dicht als in ihrer Erinnerung vorkamen. Plötzlich bewegte sich ihre Mutter im Schlaf, ihre aufgesprungenen Lippen öffneten sich einen Spaltbreit, und

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