Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
durch den Saal, doch dann ersuchten die Pizzikins und ein Schwarm kleiner indigoblauer Vögel die Versammlung, still zu sein. Sofort verstummten alle und lauschten gespannt.
Schon bei den ersten Klängen ging allen Anwesenden das Herz auf, die eingängige, fröhliche Melodie ließ niemanden kalt. Es dominierten die Saiteninstrumente aus auffällig gemasertem Holz, von denen die einen Lauten ähnelten, wieder andere Mandolinen oder Geigen. Doch auch Schlaginstrumente gab es: Vier junge Mädchen standen hinter hohen, mit Stoff bespannten Fässern, auf denen ihre flinken Hände auf und ab hüpften. Bald fanden sich im ganzen Festzelt Paare zusammen, die auf fremdartige Weise miteinander tanzten. Pavel fasste Oksa beim Arm.
»Aber Papa, den Tanz kann ich doch gar nicht!«, protestierte sie.
»Mach dir keine Sorgen, ich führe dich«, erwiderte Pavel freundlich.
Oksas Blicke wanderten unwillkürlich zu Tugdual, der ihr zuzwinkerte, und so nahm sie die Aufforderung ihres Vaters an.
Sie staunte, wie gut er tanzen konnte. »Seit wann kennst du die Tänze Edefias?«
»Seit deine Großmutter sie mir beigebracht hat, vor sehr, sehr langer Zeit«, antwortete er und wirbelte seine Tochter im Kreis herum. »In dem sibirischen Dorf, wo ich aufgewachsen bin, gab es eine Menge hervorragender Musiker. Dragomira brauchte bloß eine Melodie zu summen, und schon konnten sie sie spielen. Die Musik, die wir jetzt hören, kenne ich deshalb gut. Die Instrumente sind nicht ganz dieselben, aber es ist trotzdem erstaunlich, wie ähnlich es klingt«, fügte er mit zitternder Stimme hinzu.
Oksa ließ sich von den harmonischen Rhythmen davontragen und tanzte eine Weile – erst mit ihrem Vater, dann mit Abakum, der sie mit seiner Beweglichkeit verblüffte, und schließlich mit der anmutigen Brune. Die Musiker auf der Plattform wechselten, und sie lächelte, als sie sah, wie Tugdual aus fünf oder sechs Metern Höhe herabsprang, um zu ihr zu kommen. Brune überließ ihrem Enkel bereitwillig das Feld.
»Ich wusste gar nicht, dass du Gitarre spielen kannst«, flüsterte die Junge Huldvolle ihm ins Ohr.
Allerdings erinnerte sie sich noch an das Musikstück, das Tugdual auf dem großen Klavier in Leomidos Haus gespielt hatte, kurz vor dem Aufbruch zur Insel der Treubrüchigen. Die wenigen düsteren und melancholischen Noten würden ihr für immer im Gedächtnis bleiben. Sie legte den Kopf an seine Schulter und seufzte.
»Es gibt so einiges von mir, was du nicht weißt, meine Kleine Huldvolle«, erwiderte Tugdual leise.
Oksa befreite sich sanft von ihm, um ihn besser ansehen zu können. Sein Gesicht war blass wie immer, doch jetzt standen zwei steile Falten auf seiner Stirn. Er wirkte äußerlich ganz ruhig, aber in seinem Blick lag etwas ganz anderes, ein brennender Abgrund, den Oksa sich nicht erklären konnte. Ihr Atem beschleunigte sich.
»Versuch nicht immer, alles zu verstehen«, flüsterte Tugdual. »Bitte.«
Dann legte er ihr die Hand auf die Augen, um sie zu schließen. Um sie herum tanzten Hunderte von Paaren, während Oksa sich völlig ihren Gefühlen und dem Moment hingab.
Eine beunruhigende Begegnung
D
ie vier Trommlerinnen schlugen wie besessen auf ihre Instrumente ein, das Fest war immer noch in vollem Gang. Weil es so stickig war, wurden die Stoffbahnen schließlich hochgebunden, um etwas kühle Luft hereinzulassen. Abakums riesengroße Centaurea wurde in die Mitte des Zeltes geschleppt, damit sie die Temperatur regulierte und die Luft reinigte. Die Erfrischung tat allen gut, Geschöpfen wie Menschen.
Oksa suchte schon seit einer Weile nach Tugdual. Zuletzt hatte sie ihn mit Zoé tanzen sehen. Sie hatte die beiden heimlich beobachtet und mithilfe des Flüsterlauschs versucht, etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen. Doch vergeblich. Es war einfach zu laut im Festzelt.
Zoé war ihr nach wie vor ein Rätsel. Nicht einmal Tugdual war so geheimnisvoll wie sie. Als Oksa sah, wie sich die beiden mitten auf der Tanzfläche mit ernster Miene unterhielten, merkte sie wieder, dass sie nichts über die wahren Gedanken ihrer Großcousine wusste. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wegen welchem der beiden Jungen Zoé dieses fürchterliche Opfer der Liebsten-Entfremdung auf sich genommen hatte. Natürlich hatte sie es getan, um ihre Freundin zu retten, da gab es keinen Zweifel. Doch Oksa wusste auch, dass einer der beiden Jungen Zoé unbeabsichtigt zu dieser Verzweiflungstat getrieben hatte. War es Gus oder Tugdual? Als sie Zoé
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