Oktoberfest
Funkverbindung.
Als ihn der Fernmeldeoffizier nicht mehr hören konnte, kicherte Blochin erneut. Von wegen er hatte den Präsidenten überzeugt. Viel mehr. Er hatte den Besserwisser im Kreml an der Nase herumgeführt wie einen tumben Ochsen.
8:15 Uhr
Der Start würde sich wegen eines verspäteten Anschlussfluges verzögern. Man warte noch auf Passagiere, hieß es über die Bordlautsprecher. Tatsächlich kam nur noch ein einziger weiterer Fluggast an Bord.
Die Passagiere in der Economyclass wunderten sich. Sie dachten, dass da jetzt irgendein VIP in das Flugzeug steigen würde. Ein Wirtschaftskapitän im Brioni-Anzug mit seiner Entourage. Ein Filmstar vielleicht. Ein Supermodel. Oder ein Rocksänger. Aber der Fluggast fiel dem Aussehen nach in keine dieser Kategorien.
Ein Mann undefinierbaren Alters, bestimmt aber jenseits der fünfzig, betrat das Flugzeug und verschwand mit wenigen, schlurfenden Schritten sofort hinter dem Vorhang zur ersten Klasse. Er sah niemanden an, hob nicht einmal den Kopf. Sein Gang erschien etwas unsicher. Er zog das rechte Bein leicht nach. Um seine schmalen Schultern schlotterte ein unförmiges, anachronistisches Jackett, das sehr schlecht saß. Das Kleidungsstück war gut zwei Nummern zu groß. Der grobe Stoff hatte eine verschossene graue Farbe. Die Ellbogen waren mit dunkelbraunen Lederflicken verstärkt. Der Mann ging vornübergebeugt.
Ein Orthopäde, der sich auf dem Weg zu einem Kongress in Moskau befand, diagnostizierte mit einem Blick einen Morbus Bechterev.
Offenbar trug der Fluggast in der rechten Tasche des Sakkos etwas Schweres, denn das Jackett hing rechts herunter.
Überhaupt schien der Mann keinen gesteigerten Wert auf sein Äußeres zu legen. Die Hose aus abgewetztem, ehemals hellgrünem Cordsamt schlackerte um seine Beine. Der Hosenboden hing wie ein Sack an ihm herunter und war vom vielen Sitzen speckig. Seine Füße steckten in grauen Söckchen und uralten, ausgelatschten Schuhen mit schiefgelaufenen Absätzen.
Obwohl der Fluggast den Kopf gesenkt hielt, konnte man sehen, dass er eine altmodische Brille aus schwarzem Horn auf der Nase trug. Das Einzige, was nicht recht ins Bild passen wollte, war der glänzende schwarze Koffer, den der Mann trug.
Nachdem eine Stewardess den Koffer unter seinen strengen Blicken im Gepäckfach verstaut hatte, ließ er sich langsam auf seinem Erste-Klasse-Sessel nieder. Mit verkniffenem Gesicht sank er in das Polster. Er stöhnte leise. Die Arthritis machte ihm zu schaffen.
Dann bestellte er bei der Stewardess ein umfangreiches Frühstück. Rühreier mit Zwiebeln und Tomaten, gebratenen Speck und vier frische Brötchen mit geräuchertem Schinken, Lachs, Salami und Leberwurst. Dazu ein großes Glas frischen Orangensaft und ein Kännchen Kamillentee. Er sprach ein schleppendes, aber nicht allzu ausgeprägtes Schweizerdeutsch.
Der Mann hat offensichtlich einen gesegneten Appetit, dachte die Stewardess, während sie die Bestellung notierte.
Nach einer Ermahnung durch das Bordpersonal legte er mit widerwilliger Miene den Sicherheitsgurt an. Dabei ließ er ein missmutiges Brummeln vernehmen. Minuten später rollte das Flugzeug in Startposition, beschleunigte und stieg dann in den bewölkten Himmel über Zürich.
Er atmete tief durch.
Seine Sekretärin war ein Schatz. Wahrscheinlich hatte sie sich am Telefon gehörig aufgeplustert. Wie auch immer, sie hatte erreicht, dass die Maschine auf ihn wartete. Jetzt lagen dreieinhalb Stunden Flug vor ihm. Vorsorglich stellte er seine Armbanduhr um zwei Stunden vor.
Dr. Urs Röhli hatte die Morgenmaschine nach Moskau gerade noch erwischt.
*
Als das Gewitter losbrach, kam es im Bärenbräu-Zelt zu einer brenzligen Situation. Infolge des ersten Donnerschlags hatten mehrere Menschen gleichzeitig zu schreien begonnen.
Kreischen wurde im Zelt laut. Panik lag in der Luft.
Aber das war auch nur zu verständlich.
Werner Vogel erschrak selbst fürchterlich. Der Donner kam so unvermittelt und heftig, dass er zuerst an eine Explosion dachte. Seitdem war sein Nervenkostüm ziemlich strapaziert. Warum hatte die Polizei nichts von dem herannahenden Unwetter gesagt?
Manche der Polizisten nestelten unsicher an ihren Schlagstöcken. Andere holten die Maschinenpistolen, die sie auf dem Rücken trugen, nach vorne und fuhrwerkten mit ihnen herum. Das heizte die beginnende Panik weiter an. Werner Vogel bekam es zum ersten Mal richtig mit der Angst zu tun.
Die Bedrohlichkeit und Unsicherheit der Situation
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