Oktoberfest
müssen deshalb stundenlang Todesängste ausstehen. Das zerrt an den Nerven. Da kommen Hunderte von posttraumatischen Belastungsstörungen auf uns zu.« Der Polizeipräsident stockte. »Ist ja auch nur zu verständlich. Wir können sie ja nicht mit Schutzanzügen ausrüsten. Dann würden die Geiseln mit Sicherheit eins und eins zusammenzählen und versuchen, die Zelte zu verlassen.« Der Polizeipräsident schluckte, bevor er fortfuhr.
»Aber wir haben noch ein anderes Problem: Die Beamten sprechen untereinander natürlich darüber. Daher wissen sie, dass eine ganze Menge Kollegen als nervliche Wracks von der Schicht aus einem der Zelte zurückkehren. Viele der Beamten weigern sich inzwischen schlichtweg, in den Zelten Dienst zu tun. Von einer zweiten Schicht auf der Theresienwiese gar nicht zu reden. Das grausame Schicksal der GSG 9 und die Veröffentlichung der Fotos von der Leiche, die inzwischen in jeder Zeitung der Welt abgedruckt sind, haben auch nicht gerade dazu beigetragen, das Selbstbewusstsein der Beamten zu stärken. Und das ist noch schonend ausgedrückt.«
Der Polizeipräsident hielt kurz inne. Mit einer Geste bat er Dr. Frühe, ihn ausreden zu lassen.
»Zweitens haben wir die psychologischen Auswirkungen in der Bevölkerung falsch eingeschätzt. Wir haben nicht vorausgesehen, dass sich ein so starkes kollektives Gefühl der Furcht aufbaut. Dementi hin oder her, die Menschen bekommen diese vermaledeite Schlagzeile mit der Atombombe nicht mehr aus ihren Köpfen. Die Bevölkerung spricht über nichts anderes mehr. Im Internet schießen immer abwegigere Spekulationen ins Kraut. Manche sprechen schon vom Jüngsten Gericht. Das hat mittlerweile eine bedrohliche Dynamik bekommen. Die Leute schaukeln sich in ihrer irrationalen Angst gegenseitig hoch. Das Gefühl der Unsicherheit bei den Bürgern wächst rapide.« Der Polizeipräsident räusperte sich und hob dann die Stimme etwas.
»In manchen Vierteln sind bereits Bürgerwehren gegründet worden. Stellen Sie sich das mal vor! Bürger dieser Stadt patrouillieren mit Knüppeln und Gaspistolen durch die Straßen ihrer Wohngebiete.« Er sah den Staatssekretär direkt an, als er in eindringlichem Tonfall weitersprach.
»Die Leute haben furchtbare Angst. Und diese Angst sucht sich auf unterschiedliche Arten ein Ventil. Die Bürgerwehren hatte ich ja schon erwähnt. Aber es gibt auch das andere Extrem. Wir kommen mit der Bearbeitung der Meldungen über Diebstähle und Sachbeschädigungen nicht mehr nach. Bürger dieser Stadt werden auf offener Straße und am helllichten Tag zusammengeschlagen und beraubt. Dabei waren wir bis jetzt noch gut dran. In der letzten Nacht hat uns das schlechte Wetter geholfen, aber heute Nacht wird es nicht wieder regnen. In den sozialen Brennpunkten des Stadtgebietes drohen nach Einschätzung der Einsatzleiter vor Ort Krawalle, möglicherweise sogar Straßenschlachten. In der letzten Nacht ist es trotz des schlechten Wetters bereits vereinzelt zu Plünderungen gekommen. Wir haben nicht damit gerechnet, dass es zu öffentlichen Unruhen kommt. Schon gar nicht in diesem Ausmaß. Die Polizei ist an den Grenzen ihrer Möglichkeiten angekommen. Sehen wir den Tatsachen ins Auge, Herr Staatssekretär, die öffentliche Ordnung ist massiv gefährdet.«
Dr. Roland Frühe hatte dem Monolog schweigend zugehört, tiefe Falten zeigten sich auf seiner Stirn. »Was schlagen Sie also vor?«, wollte der Vertreter der Bundesregierung wissen. »Wie viele zusätzliche Männer brauchen Sie noch?«
»Die meisten Beamten können wir nur für acht bis zehn Stunden auf der Theresienwiese einsetzen. Es ist, wie gesagt, zu Nervenzusammenbrüchen gekommen. Ich weiß nicht, ob wir das Problem mit noch mehr Polizei lösen können.«
Dr. Frühe erhob sich, wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Seine Stimme hatte einen lauernden Unterton. »Was meinen Sie damit genau? Ich wiederhole meine Frage: Was schlagen Sie vor?«
Als er keine Antwort erhielt, fuhr er auf dem Absatz herum. Sein Blick suchte die Augen des Polizeipräsidenten. Aber der Mann war bereits wortlos aufgestanden und hatte den Raum verlassen.
Der Stuhl neben dem von Roland Frühe war leer.
*
Moskau, 14:05 Uhr Ortszeit
Dr. Urs Röhli stand an der Rezeption des Moskauer Flughafenhotels. Er äußerte den Wunsch nach einem Zimmer. Aber nur für drei Stunden. Um 16:40 Uhr würde er nach Kaliningrad weiterfliegen. Die junge Dame am Empfang musterte die komische Erscheinung des Gastes.
»Nur für
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