Oktoberfest
Luft werden.
Er nahm seine Brille aus Fensterglas ab und legte sie auf die Bar.
Wind werden.
Der Angriff dauerte nicht ganz sechs Sekunden.
Sturm werden.
Kapitän zur See Wolfgang Härter sprang von seinem Hocker und richtete sich auf. Das viel zu große Jackett glitt von seinem Oberkörper und fiel auf den Hocker. Seine Schultern spannten sich. In den Mienen seiner drei Gegner konnte er völlige Überraschung ablesen.
Seine Hand befand sich bereits neben dem Kopf des Mannes, der rechts von ihm stand, bevor der Matrose reagieren konnte.
Der Mann hatte die Bewegung des Armes nicht gesehen. Viel zu schnell. Daumen und Zeigefinger packten den oberen Rand der Ohrmuschel. Härter hob den Ellbogen, holte Schwung. Dann flog der Ellbogen nach unten. Er riss dem Mann das linke Ohr vom Kopf.
Die Wunde blutete sofort sehr stark.
Der Mann schrie auf.
Der Schrank in der Mitte kam auf ihn zu und holte mit der Faust zu einem Schlag gegen seinen Kopf aus. Links von sich hörte er das Geräusch eines aufspringenden Klappmessers.
Mit einer Bewegung, die an einen Fußball-Torwart beim Abschlag erinnerte, trat er dem Bootsmann gezielt zwischen die Beine. Härters Schienbein traf ihn wie die stumpfe Seite einer Axt. Die Wucht des Tritts hob den sicher neunzig Kilo schweren Mann kurz ein wenig an.
Dauerhafte Schädigung des Gegners billigend in Kauf genommen. Bestimmt kein Verlust für den Genpool der Menschheit.
Seine linke Hand griff nach hinten zum Tresen. Mit der Schlagkraft einer Tennis-Vorhand schmetterte er dem Matrosen, der links von ihm stand, den schweren Aschenbecher genau ins Gesicht.
Voll durchgezogen.
Mitten in die Fresse rein.
Der Aschenbecher zerbarst beim Aufprall. Der Kopf des Mannes wurde in einer Wolke aus Asche, Kippen, Blut, Glas, Fleischfetzen, Nasenknorpel und Zahnsplittern nach hinten gerissen. Das Messer klapperte auf den Boden. Der Angreifer konnte sich nicht auf den Beinen halten, riss noch zwei weitere Männer mit sich und stürzte dann nach hinten.
Der Wortführer war schlagartig kalkweiß geworden. Sein Atem ging keuchend. Seine Hände hielten seine zerquetschten Hoden. Sein Oberkörper kippte langsam nach vorne. Wolfgang Härter traf ihn mit einem Kopfstoß genau auf die Nasenwurzel. Er spürte, wie das Nasenbein seines Gegners zerbrach.
Blut schoss aus den Nasenlöchern.
Der Mann taumelte einen Schritt nach hinten, seine Knie gaben dabei nach. Er sank zu Boden und kippte auf die Seite, wo er sich heftig erbrach.
Der Kapitän hielt das abgerissene Ohr direkt vor das Gesicht seines ehemaligen Besitzers. Dann ließ er das Ohr fallen.
In einer Reflexhandlung bückte sich der Mann, um sein eigenes Körperteil aufzufangen.
Das rechte Knie des Kapitäns traf ihn ungebremst im Gesicht. Beide Jochbeine brachen mit einem hässlichen Knacken.
Auch der dritte Angreifer wurde nach hinten geschleudert und ging zu Boden. Sein Gesicht war eingedrückt und schrecklich entstellt. Er rührte sich nicht mehr.
Es war schlagartig still geworden. Niemand sprach ein Wort.
Nur eine russische Popsängerin sang davon, wie schmerzhaft der Verlust ihres Geliebten für sie war.
Rund einhundertfünfzig Augenpaare sahen Härter an.
Langsam glitten die Augen des Kapitäns durch das Lokal.
Blaues Feuer.
»Sonst noch jemand ohne Fahrschein?«, fragte er in gestochen scharfem Russisch.
Fünf Sekunden vergingen.
Zehn.
Dann wandten die Gäste des Lokals – wie auf einen unhörbaren Befehl hin – ihre Köpfe wieder ab und setzten ihre Gespräche fort, als wäre nichts geschehen.
Wolfgang Härter zog sein Jackett an, setzte seine Brille auf und griff nach dem Aktenkoffer. Schließlich sah er den Barmann an, der mit bleichem Gesicht hinter seiner Theke stand.
»Was bin ich schuldig?«, fragte er.
»Das geht aufs Haus«, stammelte der Mann.
Unbehelligt verließ Härter das Lokal. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als seine Schultern nach vorne fielen. Seine Silhouette wandelte sich zu der eines schmächtigen Mannes. Sein ganzer Körper sackte von einer Sekunde auf die andere in sich zusammen. Wie er dann so gebückt und mit etwas unsicheren Schritten die Straße entlangging, wirkte er zehn Zentimeter kleiner und zehn Jahre älter.
Erst an der nächsten Straßenecke blieb er stehen und stellte den Koffer ab.
Aus einer der großen Taschen seines Sakkos förderte er ein Päckchen zutage, das aussah wie die Verpackung eines Erfrischungstuches. Er riss es auf. Ein kleines Tuch kam zum Vorschein,
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