Oktoberfest
Benediktiner-Zelt. Das Rathaus. Der Auftritt des Kardinals. Aber Rombergs Augen schienen das alles nicht zu sehen. Sein Blick verlor sich an einem weit entfernten Punkt.
Unbewusst begann seine rechte Hand, rhythmisch zu zucken.
Eine Kette zunächst loser Assoziationen hatte von ihm Besitz ergriffen und war binnen Sekunden zu grausiger Gewissheit geworden. Seine Gedanken bildeten rasende Kaskaden. Durch das Mauerwerk des Selbstschutzes brachen sich verdrängte Bilder und Gefühle Bahn.
Die Demütigung. Der Schmerz. Das gütige Gesicht seiner Mutter. Die unendliche Trauer ihrer Augen in der Stunde des Abschieds. Das Gesicht seines Vaters, außer sich vor Wut. Er selbst, zweiundzwanzig Jahre alt, in Schimpf und Schande. Die Nacht an den Eisenbahngleisen.
Die Nacht seiner Schuld.
Unvergeben.
Ungesühnt.
Romberg hatte plötzlich das Gefühl, zu frieren. Ein Zittern lief durch seinen Körper.
Sein Gefährte war nicht länger ein gelegentlicher, unscharfer Traum. Sein Gefährte war real. Hier und jetzt. Wie eine gewaltige Brandung schlug die Vergangenheit über der Gegenwart zusammen und riss Karl Rombergs heile Welt in Stücke.
Sein Gefährte war zurückgekehrt.
*
Der Bundeskanzler persönlich rief Wolfgang Härter auf dem Cryptophone an. Der Kapitän brauchte nur fünfzehn Sekunden, um zu verstehen, was los war. Der Gegner hatte sie entdeckt.
»Abbruch! Brechen Sie ab! Schalten Sie den Sender ab!«, brüllte er durch den Raum zu Stefan Meier. Der reagierte sofort. Weitere zehn Sekunden später war der Sender abgeschaltet.
Härter beendete das Gespräch und sah Stefan Meier mit zerknirschtem Gesichtsausdruck an. »Pech! Hat nicht funktioniert. Die Täter haben uns entdeckt. Aber versuchen mussten wir es.« Wolfgang Härter seufzte. »Von den großen Dingen reicht es, sie gewollt zu haben, sagt Nietzsche.«
Meierinho wiegte nachdenklich den Kopf, seine Züge spiegelten den Anflug eines spitzbübischen Grinsens. »Vielleicht war es sogar ganz nützlich.«
»Wie meinen Sie das, Herr Meier?«
»Wir wissen jetzt, dass das Bildsignal der Täter durch einen Zeitstempel abgesichert ist. Aber ist auch das Signal, das von dem Flugzeug gesendet wird, mit einer solchen Sicherheitsmaßnahme versehen? Jetzt, da uns klar ist, wonach wir suchen müssen, können wir das Muster vermutlich isolieren. Wenn ein solches Muster in dem anderen Signal fehlt, können wir dieses Signal angreifen. Eine Replay-Attacke, wenn Sie verstehen. Wir würden den Tätern dadurch die Möglichkeit nehmen, Giftgas freizusetzen oder eine Detonation auszulösen. Wir hätten gewonnen. Wir könnten das Flugzeug abschießen.«
»Jetzt machen Sie mal langsam mit den jungen Pferden, Herr Meier. Sie vergessen, dass sich an Bord des Flugzeugs eine Geisel befindet. Aber ich habe Ihren Vorschlag verstanden. Und da ich im Moment keine bessere Idee habe, kann ich nur sagen: an die Arbeit!«
Stefan Meier fuhr auf dem Drehstuhl herum und sah auf den Bildschirm. Seine Finger begannen, über die Tastatur zu tanzen.
»Ach, und was diese Geisel angeht …«, fing Härter erneut an.
»Ja?« Meierinho hob den Blick und schaute in seine Richtung.
»Sie haben sicherlich bemerkt, dass Sie auf Ihrem Rechner ein Programm zur Ortung von Mobiltelefonen haben?«
Stefan Meier nickte.
»Geben Sie die Nummer der Geisel in die Überwachung. Man kann nie wissen.«
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die Täter so etwas übersehen?«
» Machen Sie es einfach!«
»Geht in Ordnung, Herr Müller. Ist so gut wie erledigt.«
Stefan Meier wandte sich wieder seinem Terminal zu. Er streckte seine Arme nach vorne aus. Dann verschränkte er die Finger und drückte die Handflächen nach außen, so dass die Fingergelenke knacksten.
*
Okavango-Delta, Botswana, Afrika
Die Stimme des Gastes aus Deutschland klang belegt, fand die Rezeptionistin des Hotels, als sie den Anruf aus dem Zimmer im zweiten Stock entgegennahm. Schnell sah sie auf die Liste der Namen.
»Herr Romberg, was kann ich für Sie tun?«
»Bitte bringen Sie mir mein Abendessen aufs Zimmer. Ich werde nicht herunterkommen heute Abend.«
»Das machen wir gerne, Herr Romberg. Ist irgendetwas passiert? Geht es Ihnen nicht gut?«
»Nein, es ist alles in Ordnung.« Der Klang seiner Stimme straft ihn Lügen, dachte die Frau an der Rezeption.
»Machen Sie bitte meine Rechnung fertig. Ich muss noch heute abreisen. Ein Jammer! Es ist wirklich wunderschön hier.«
»Schade, dass Sie uns schon verlassen wollen. Ihr
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