Oktoberfest
lag die österreichische Hauptstadt unter einer frischen Schneedecke. Der 1. Bezirk, dessen Bauten aussahen, als wäre ein Zuckerbäcker ins Architekturfach gewechselt, erschien durch den Neuschnee noch unwirklicher als sonst.
Glitzernd reflektierte das Weiß die strahlende Wintersonne.
Viele Touristen, die zum ersten Mal das Stadtzentrum besuchten, hatten den Eindruck, eine Zeitreise hinter sich zu haben. Die Zeitmaschine hatte sie in die Glanzzeit der österreichisch-ungarischen Monarchie versetzt. Nur Autos, Ampeln, Straßenbahnen, Wurstbuden und Souvenirstände erinnerten daran, dass man sich im 21. Jahrhundert befand.
Viktor Slacek lebte seit fünfzehn Jahren in Zürich, obwohl ihm Wien eigentlich viel besser gefiel. Die Wahl seines Wohnortes hatte jedoch praktische Gründe. Zum einen waren es die ökonomischen Vorteile, zum anderen die politischen.
Viktor Slacek war ein reicher Mann. Und in keinem anderen Land der Welt – von Saudi-Arabien und Monaco einmal abgesehen – war Reichtum so alltäglich und unauffällig wie in der Schweiz. Die Hermetik des eidgenössischen Bankgeheimnisses erlaubte ein Leben in völliger Diskretion. Und die Steuergesetzgebung des neutralen Landes tat das Ihrige dazu.
Viktor Slacek war viel auf Reisen. Er kannte beinahe jeden Großflughafen des Planeten. Und die Vorteile eines Schweizer Passes waren beträchtlich. Keine Schikanen. Keine übertriebenen Kontrollen an den Grenzen oder auf den Flughäfen. Keine historisch, ideologisch oder politisch motivierten Anfeindungen. Oft sogar ein freundliches Lächeln.
Seine Dienste waren weltweit gefragt. Seine Erfolgsquote lag bei beeindruckenden einhundert Prozent. Er war freiberuflich tätig und konnte sich über einen Mangel an Arbeit nicht beklagen.
Viele Projekte musste er aus Zeitgründen ablehnen.
Viktor Slacek war für seine eigenen Begriffe kein besonders eitler Mann. Er hätte nicht widersprochen, wenn jemand bezweifelt hätte, dass er weltweit der Beste in seinem Beruf war. Es mochte noch ein, zwei andere geben, die möglicherweise ebenso gut waren. Aber wenn jemand behauptet hätte, es gäbe einen besseren in Europa , dann hätte Viktor Slacek zumindest unwillig die Stirn gerunzelt und möglicherweise sogar nachgefragt, wer das denn bitte sein solle.
Vor drei Wochen hatte ein alter Freund mit ihm Kontakt aufgenommen.
Auf die übliche Art.
Über eine Kleinanzeige in der Neuen Zürcher Zeitung .
Diese Anfrage konnte er unmöglich ablehnen. Für heute Abend war ein Gespräch verabredet worden. Es war sein Vorschlag gewesen, sich in Wien zu treffen. Auf seine Kosten, selbstverständlich. Er freute sich darauf, seinen alten Freund wiederzusehen.
Slacek wusste zwar ganz genau, dass Unauffälligkeit eine zentrale Voraussetzung für seinen Beruf war. Dennoch war er nicht von Zürich nach Wien geflogen, sondern mit seinem Auto gefahren. Mit einem sehr auffälligen, sehr schnellen Auto.
Fünfhundertundsechzig PS.
Er liebte schnelle Autos. Eine seiner wenigen Schwächen. Deshalb war er über deutsche Autobahnen gefahren. Kaum Geschwindigkeitsbegrenzungen. Wundervoll!
Er sah sich um. Das bullige Grollen der zwölf Zylinder ließ die Passanten auf dem Gehsteig die Köpfe drehen. Sein schmallippiger Mund zeigte ein dünnes Lächeln, als seine Augen kurz am Display seines Radarwarngerätes hängen blieben.
Vienna von Ultravox drang aus den Lautsprechern des High-End-Soundsystems. Die manikürten Finger seiner blassen, feingliedrigen Hände trommelten den getragenen Takt des Liedes auf das Lenkrad. Leise sang Viktor Slacek mit: A man in the dark in the picture frame, so mystic and soulful …
Er fuhr über die Wiener Ringstraße zum Hotel. Die prachtvollen Bauten der Universität und des Parlamentes zogen an ihm vorbei.
A voice reaching out and a piercing cry stays with you until …
Die nächste Ampel zeigte Rot. Er bremste sanft ab. Sein Blick ruhte kurz auf dem berühmten Opernhaus. O ja, Wien gefiel ihm.
The feeling is gone. Only you and I …
Er kannte wahrlich die ganze Welt. Aber Wien war seine Stadt. Durchdrungen von einer weisen, tiefen Melancholie.
It means nothing to me …
Alles atmete hier die eigene Vergänglichkeit.
This means nothing to me …
Hier fühlte er sich wohl. Bis zum Abendessen war noch etwas Zeit. Er würde der Kapuzinergruft einen Besuch abstatten können. Darauf freute er sich schon. Das war ein Ort, der ihm jedes Mal Behagen bereitete. Genau die richtige Atmosphäre, um in
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