Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
von Lida nach Minsk. Viel im Auto unterwegs zu sein: das Wissen, daß das Maß des Überlebens ohne Unfall irgendwann voll ist. Ein langes Warten. Auf den Crash. Als wenn er unvermeidlich wäre und man ihn nur hinauszögerte. Viel unterwegs zu sein heißt, nahe am Crash zu sein.
Die nächtlichen Nebel stiegen und sanken, stiegen und sanken. Die Gegenlenkbewegung bei Aquaplaning. Der schwarze Regen. Die schwarze Straße, die noch schwärzeren Löcher darin.
Grande Opéra
Die Wochen vergingen. Ich fuhr nicht in unser Städtchen. Tatsiana erklärte ich, meine Abschlußarbeit könne nicht länger warten. Zwischen Alezja und mir herrschte Funkstille. Sie hatte recht behalten: entweder beide oder keine. Wenigstens für die Wochen bis Neujahr hatte ich mich für letzteres entschieden.
Ich vergrub mich, ich traf, ich begegnete niemandem, außer Stanislau, der auf den obligatorischen Nachmittagstee bei mir hereinsah. Wenn er seinen Mantel auszog, entfielen ihm Zettel, zahllose kleine, mittelgroße, mit Brand- und Teeflecken versehene Zettel. Ich überflog sie.
Wie jede ernsthafte Krankheit bedarf der belarussische National-Nihilismus tiefgreifender Heilung. Adam Maldsis
Ich las.
Der Krieg, die demographische Veränderung und die verordnete Parteigeschichtsschreibung machten die Bevölkerungsmehrheit Weißrußlands zu einem weitgehend geschichtslosen Volk. Donal O’Sullivan
Was Stanislau zu dieser Zeit auch in die Hände geriet: er beschrieb und bekritzelte es. Er konnte gleichsam nicht an seinen Geist halten, wie andere nicht ihren Urin halten können. Wie Großpapa. Nur stubenrein.
Auf der Straße von Minsk nach Hrodna. Neujahr stand vor der Tür. Tatsiana hatte sich gewünscht, daß ich mit ihnen feierte. Wie früher. Auch Manja habe es sich gewünscht, behauptete sie.
Ich wußte nicht, wie sie sich dieses tagelange Beisammensein vorstellte. Wir würden einander umtänzeln, gute Miene zum bösen Spiel machen. Grande Opéra. Ich zweifelte sehr an Lesjas darstellerischen Künsten.
Schon die Begrüßung war eine Farce: Tanja reichte mir die Hand, mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck, der Bedauern enthielt, um Verzeihung flehte. Marya umarmte mich, drückte mir, wenn auch verstohlen, feuchte Küsse auf beide Wangen. Tanja spielte die Hausfrau, sie hatte die Zimmer geschmückt, dabei an Kitsch nicht gespart, sie hatte für mindestens hundert Tage im voraus gekocht, bot uns alle drei Minuten Kompott an, sie stand nicht still und saß nicht still, ich versuchte mich mit Manja über die Schule zu unterhalten und erfuhr, daß sie sie enorm langweile. Wir gähnten unisono.
Dann tauchte Alezja unter der Tür auf. Sie trug kniehohe braune Stiefel zu einem pinkfarbenen Minirock. Manja rollte die Augen.
»Du bist also gekommen?« fragte ich.
Alezja grinste breit.
»Du doch auch immer, oder etwa nicht?«
Sie grinste noch breiter.
»Wunderbar«, sagte sie mit einer Stimme, die drohte, in den Diskant zu fallen, »dann sind ja all deine Frauen versammelt.«
Als sie sich umdrehte, sah ich lange Laufmaschen an beiden Beinen. Es sah aus, als hätte jemand Pfeile gezeichnet, die direkt in ihren Unterleib mündeten.
Ich half Tanja in der Küche. Im Vorbeigehen suchte ihre Zunge meine Mundhöhle ab, sie fuhr mir durchs Haar, nichtohne sich vorher vergewissert zu haben, daß niemand in Sichtweite war.
Ich bekam Kopfschmerzen.
Beim Silvesteressen ging Tanja so weit, mich ›Wasil‹ zu nennen, also beendete ich jeden Satz mit »Ergebensten Dank, Tatsiana Stafanauna«. Alezja schien vor Ironie und Bosheit zu platzen. Plötzlich zeigte sie eine Leidensmiene, rutschte unruhig von einer Seite des Stuhls auf die andere.
»Ich versteh das nicht. Seit Wochen hab ich Schmerzen beim Sitzen. Mein ganzer Arsch ist wund.«
Marya lachte laut heraus, Tatsiana warf ihren Löffel in die Suppe. Und Alezja sah mich unverwandt an.
»Du solltest auf die Bananen verzichten«, sagte ich, »und öfter mal einen Apfel essen.«
»Wahrscheinlich hast du recht, Wasja, sicher, du kennst dich mit dem weiblichen Körper gut aus.«
Tatsiana blickte befremdet von ihr zu mir, auf ihre Suppe, auf Manja, auf die Wanduhr. Noch über vier Stunden bis Mitternacht.
Alezja verabschiedete sich vor dem neuen Jahr, sie hatte den pinkfarbenen gegen einen grünen Minirock vertauscht. Die Laufmaschen behielt sie an. Zum Abschied steckte sie sich den Mittelfinger in den Mund, lutschte daran und legte ihn mir auf die Lippen. Tatsiana und Marya waren derweil mit der
Weitere Kostenlose Bücher