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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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umgestiegen.
    Als der Frühling da war, schlug Stanislau vor, wieder mal etwas zu unternehmen, nur wir zwei, am Polentümpel nach dem rechten (und dem linken) zu sehen. Ich war wenig begeistert, selbst als er darauf bestand, die Zugkarten für uns beide zu bezahlen. Seit über zwei Jahren war ich nicht mehr in unserem Städtchen gewesen, wieder mied ich unser Haus wie den Hort einer ansteckenden Hirnkrankheit. Aber weil Stanislau darauf bestand, schließlich habe er mir etwas zu berichten (oder sagte er »beichten«?) – ich nahm an, es handelte sich um finanzielle Unterstützung für seinen Sender aus ultrakonservativen westlichen Kreisen, »beichten« wäre dann das rechte Wort gewesen –, und weil ich wußte, daß Tanja und Lesja das ganze Wochenende in Minsk waren, sagte ich zu.
    »Eine Ruderpartie«, lachte er, als er mein Gesicht und ich das abgewrackte Bötchen sah, das seine Familie in der Garage aufbewahrte.
    Eine Ruderpartie. Auf dem Polentümpel. Fünfzig mal fünfzig Meter. Das verhieß nichts Gutes. Vermutlich war es noch schlimmer, was da in Sachen Radio zu beichten war.
    Trampelpfade über abgeböschten Feldrain in die Gartengrundstücke meiner Kindheit. Marya war müßig, drückte sich um das Haus herum. Sie hatten Großpapas Elektroschrott entsorgt, für mein Erbe wäre es jetzt zu spät gewesen (mehr als einen Moment dachte ich darüber nach, wie mein Leben ohne dieses Erbe wohl verlaufen wäre). Sie schien meinem Jugendfreund nicht über den Weg zu trauen. Dabei war es Stanislau, der sie schließlich dazu aufforderte, mit uns zu kommen. Marya verschwand ins Haus, um sich umzuziehen.
    »Ist dir doch recht, oder?«
    Ich wußte nicht, ob es mir recht war. Ich hatte Manja seit Jahren nicht gesehen, sie nie wirklich beachtet. Sie schien mir noch immer ein schmales, weiches Mädchen mit ihren sechzehn Jahren. Ich wäre nie darauf gekommen, daß sie nicht zu klein für so etwas wäre, sie war ja gerade erst zwei Jahre alt. Sie war immer nur zwei Jahre alt. Basta.
    Obwohl es winzig war, hatten wir Mühe, das Boot an den Tümpel zu tragen. Marya ging neben uns her. Sie brach eine Moosbeerenrispe, zielte mit den winzigen unreifen Früchten ins Grün. Bienen, Wespen, Fliegen fuhren auf und warfen sich zürnend zurück in den Holunder. Stille über den Feldern. Erhabene Stille. Wahnwitzige Stille. Völlig idiotische Stille für den Städter, der ich geworden war.
    »Rudern!« schimpfte ich, schweißstarrend, als wir endlich angekommen waren und uns von der Last befreiten, »früher wollten wir hier in die Tiefe tauchen, jetzt gehen wir rudern. Was ist bloß aus uns geworden, Stas?!«
    »Sei froh, wenn wir nicht tauchen müssen. Ganz geheuer ist mir das Boot nicht, wenn ich ehrlich sein soll.«
    Es leckte zum Glück nur aus drei kleineren Löchern, die ich mit Proviantverpackungen verspundete. Was wirklich leckte, war die Unterhaltung auf engstem Raum. Ich beschränkte mich darauf, den beiden zuzuhören. Stanislau, der die meiste Zeit am Ruder saß, sprach mit Marya über die Schule, über die Schwestern, über das Leben an der Westgrenze unseres Landes, dort, wo es seit kurzem an die Europäische Union stieß. Ich bemerkte, daß er inzwischen viel Übung darin hatte, solche Gespräche zu führen. Politikergespräche. Die in Erfahrung zu bringen suchten, was das Volk denn so dachte. Die Jugend. Die Pensionisten, die Arbeiter, die Frauen, der Mittelstand, die Intelligenzija, die Züchter von Luxushamstern, die Listeist beliebig erweiterbar. Stanislau war ganz Volksvertreter geworden, der sein Ohr überall hatte, aber alles, was in die Tiefe ging, überhören würde. Ich strengte mich an, nicht mehr angestrengt zuzuhören. Sonst hätte ich kotzen müssen.
    Und dann, als ich hinsah statt hinzuhören, entdeckte ich, wie sein Auge für Momente schmerzvoll auf Marya ruhte, auf ihren Händen, und dabei mochte er an Jadwiha denken. Heute wäre sie nur ein paar Jahre älter als Manja. Und vielleicht ebenso schön.
    Marya. Von mir unbemerkt war sie herangewachsen und hatte diese Phase der Jugend erreicht, in der sie ganz heiliger Ernst und missionarischer (oder zumindest reformatorischer) Eifer ist, das für gut und recht Erkannte durchzusetzen und es aufs äußerste zu verteidigen; mehr noch: diese Phase, in der die Jugend ganz Glaube ist, den Verworfenen und seine verworfene Welt reinigen und retten, ja, an sich aufrichten zu können. Vielleicht war sie gerade auf der Suche nach solch einem Verworfenen. Und sie sah

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