Olafur Davidsson 02 - Herbstwald
Aus sämtlichen Annalen wurden die Namen dieser Verachteten getilgt. Sämtliche erreichbaren Bildnisse und Inschriften wurden zerstört.
Davídsson dachte daran, dass die Augsburger ihre Stadt als die nördlichste Italiens betrachteten. Er wusste, dass sie 15 vor Christus unter dem römischen Kaiser Augustus als Provinzhauptstadt gegründet worden war. Und er wusste auch, dass der erste römische Kaiser nach seinem Tod zum divus erklärt worden war.
Ein Staatsgott ist das Gegenteil von einem Verdammten, überlegte er.
Der Geruch von frischem Tabak schwebte in seine Richtung. Unter ihm rauchte jemand auf dem Balkon. Es war ein würziger Geruch, der jetzt angenehm auf ihn wirkte.
Noch jemand, der seine Augen in die Ferne schweifen ließ, um nachzudenken.
Die Kälte störte ihn nicht. Er genoss das leichte Frösteln unter der schwarzen Strickjacke, die er über das Hemd gezogen hatte. Sein Blick fiel auf den Perlachturm und das Rathaus, die beide rechts von ihm in der Dämmerung leuchteten. Nur der Hauptbahnhof strahlte noch heller.
Plötzlich bahnte sich ein Wort den Weg durch das Gedankendickicht in seinem Kopf. Ein Begriff, der ihm schon viel früher hätte einfallen können. Es war wie eine unterschwellige Ahnung, die jetzt nach oben in die Freiheit wollte.
Davídsson dachte an Zeugenschutz.
Er wusste, dass die Abteilung, die sich darum kümmerte, dass Zeugen nach ihrer Aussage vor Gericht weiterleben konnten, eine ganze Person neu erfinden musste.
Die Zentralen kriminalpolizeilichen Dienste konnten legal ein Leben auslöschen und ein anderes erschaffen.
Es waren nicht viele, die in den Genuss eines neuen Daseins kamen. Das Bundeskriminalamt kümmerte sich nur um die bedeutendsten Fälle, und das waren nicht mehr als fünfzig im Jahr. Es war aufwendig, diesen Menschen eine neue Identität zu geben, sie mit einem neuen Personalausweis, einem anderen Beruf und einer anderen Vergangenheit auszustatten.
Aus einer Legende wird ein Mensch, dachte er jetzt.
Das größte Opfer brachten die Zeugen. Sie mussten den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen und zu allen, die sie einmal kennengelernt hatten – Bekannte, Freunde und heimliche Affären. Sie verloren ihre Heimat und den Arbeitsplatz und gingen dabei trotzdem noch ein hohes Risiko ein.
Davídsson wusste, dass das den meisten nicht bewusst war, wenn sie sich dazu entschlossen, gegen das organisierte Verbrechen auszusagen.
Er hatte sich in der Vergangenheit ein paarmal mit einem Kollegen zum Mittagessen verabredet, der solche Menschen psychologisch betreute, nachdem sie sich aus ihrem gewohnten Umfeld verabschiedet hatten.
Die meisten von ihnen hatten bereits Einschüchterungen und Morddrohungen hinter sich gebracht und überlebt. Vom Killerkommando, das den ›Verrat‹ mit einem Messer oder einem Strick rächen sollte und damit die Erinnerung an den Verräter auslöschen wollte, als wäre er nie in diese Welt getreten.
Joseph Wagner war zur selben Zeit wie Davídsson in Amerika gewesen. Wagner hatte in Georgia das Witness Security Basic Seminar absolviert. In drei Wochen hatte er gelernt, wie man Menschen das Leben rettete. Seither arbeitete er räumlich und organisatorisch getrennt von jenen Ermittlern, die Beweise zusammentrugen.
Die Abteilung hatte von jeher etwas Mysteriöses – auch für die Beamten des Bundeskriminalamts.
Wagner hatte ihm erzählt, dass sie, wenn alles gut ging, zwei Wochen Zeit benötigten, um ein neues Leben zu schaffen, und dass er und seine Kollegen auch schon mal getarnt als Möbelpacker bei einem Umzug in eine andere Stadt halfen oder neue Autos für den Zeugen kaufen mussten.
Am schlimmsten ist es für die Kleinen, hatte er Davídsson erzählt. Die werden aus ihrem Umfeld gerissen, ohne diese Entscheidung selbst zu treffen. Völlig fremdbestimmt von der Mafia. Mit den Kindern müssen wir oft tagelang üben, was sie sagen dürfen und was nicht. Wir kümmern uns um neue Telefonanschlüsse, lassen Fangschaltungen legen und organisieren Anruf-Weiterleitungen in andere Städte, ohne dass es große Mühe macht. Aber den Kindern zu sagen, dass sie nun nicht mehr Tim oder Linus sondern Marco und Dominik heißen, ist das Schwierigste an meinem Job, hatte er Davídsson erklärt.
Davídsson hatte ihm angesehen, wie sehr ihn seine Arbeit belastete. Er wusste, dass er selbst zwei Jungen hatte, die so etwas nie am eigenen Leib erleben sollten.
Er schloss die Balkontür hinter sich und suchte die Nummer von Joseph Wagner aus dem
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