Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
er jetzt gefoltert werden? Würden Nadja und er nun in einem Gefangenenlager eingesperrt? Was sollte dann aus seiner Mutter werden? Tränen ohnmächtiger Angst stiegen ihm in die Augen. Er dürfe nicht heulen, hatte sein Vater gesagt. Und dieser Deutsche durfte schon gar nicht glauben, dass sich ein russischer Junge wie ein Säugling benahm.
Im Handumdrehen hatte Oleg die Pistole aus der Taschegezogen und mit zitternder Hand auf den Soldaten gerichtet. Dann blickte er scheu auf, ob der Deutsche ängstlich geworden war.
Aber der Soldat hatte keine Angst. Er schüttelte langsam, fast bekümmert den Kopf – nicht böse, nicht gemein oder grimmig, wie man hätte erwarten können, sondern einfach nur, um klarzumachen, dass die Pistole sinnlos sei. Enttäuscht, doch gleichzeitig auch erleichtert ließ Oleg die Hand sinken.
»Na, Kleiner, was machst du denn hier?«
Es waren fremde Worte, die Oleg nicht verstand, aber sie klangen sanft und freundlich. Wollte der Soldat etwa wissen, was er hier tat?
»Wir wollten Kartoffeln holen«, erwiderte Oleg, und weil der Deutsche seine russischen Worte nicht verstand, zeigte er nach der Baumreihe in der Ferne und auf seinen Mund. So würde der Soldat wohl begreifen, dass sie nicht gekommen waren, um Krieg zu führen, sondern um Essen zu suchen.
»Gott im Himmel!«, murmelte der Soldat. Er warf sein Gewehr in den Schnee, legte Oleg die Hand auf den Kopf und kniete dann neben Nadja nieder.
Oleg sah das Gewehr dicht vor seinen Füßen liegen. Sollte er es nehmen? Wenn er schnell genug war, könnte er den Soldaten erschießen. Das hatte er doch immer gewollt: Deutsche erschießen. Die Deutschen waren schließlich die gemeinsten Menschen der Welt. Doch aus der Art, wie der deutsche Soldat Nadja ansah, ihr ein wenig aufhalf und ihr dabei den Arm um die Schulter legte, begriff Oleg, dass dies kein Feind war. Das brachte ihn in Verwirrung.
»Ulli, Karl, Heinz, kommt mal her!«, rief der Soldat über die Schulter. Oleg fuhr herum. Da erst entdeckte er die andern Deutschen – ihre Köpfe ragten über den Rand eines Grabens hervor. Sie hatten die Kapuzen ihrer weißen Schneehemden über die Stahlhelme gezogen, sodass sie vor dem verschneiten Hintergrund fast nicht zu bemerken waren. Gehörten sie vielleicht zu einer kleinen Patrouille, die auf Erkundung war? Oder lagen da Tausende von weißen Soldaten im Schnee, die einen großen Angriff auf Leningrad machen sollten?
Die drei Gerufenen stiegen aus dem Graben und kamen auf ihn zu. Sie hatten Gewehre und Maschinenpistolen schussbereit in den Händen.
»Kognak!«, rief der Soldat, der neben Nadja kniete. Einer der Männer reichte ihm eine kleine Flasche. Ganz vorsichtig ließ der andere Nadja trinken. Einige Tropfen liefen ihr übers Kinn, doch etwas schluckte sie.
Nadja bewegte sich. »Danke, Oleg«, murmelte sie fast unhörbar. Dann schlug sie die Augen auf. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand, das sah man. Langsam wandte sie den Kopf den Deutschen zu. Oleg sah, wie sie erschrak. Ihr Gesicht war voller Angst.
»Oleg!« Nadja wollte aufstehen, doch ihr fehlte die Kraft dazu.
»Es sind deutsche Soldaten«, flüsterte Oleg hilflos.
»Hab keine Angst!«, beruhigte ihn der Soldat auf Deutsch.
»O Oleg«, sagte Nadja. Sie schloss die Augen und wärebestimmt hintenübergefallen, wenn der Soldat sie nicht festgehalten hätte. Einer der Männer nahm das weiße Schneehemd ab. Er öffnete den Tornister und Oleg sah ein Stück Wurst, ein halbes Brot und eine Tafel Schokolade. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Gespannt sah er zu, wie der Soldat ein kleines Stück von der Schokolade abbrach und es Nadja in den Mund schob.
Nadja lächelte ein wenig. Der Soldat nickte ihr zu. Er gab ihr noch ein kleines Stück und darauf noch eins. »Hier!« Einer der Deutschen hielt Oleg ein Stück Wurst vor die Nase. Oleg starrte darauf und schaute dann den Soldaten unentschlossen an. Durfte man von Feinden etwas annehmen? Wie viele Berichte über stolzen Mut hatte er nicht schon über Russen gehört, die Deutsche bis in den Tod verachtet hatten? Er spürte, wie der Hunger in ihm nagte.
»Ist gut!«, sagte der Deutsche.
Oleg schüttelte langsam den Kopf. Er musste schlucken. Danach fühlte er erst richtig, wie müde er war. Die Soldaten drehten sich vor seinen Augen. Schwarze Flecken tanzten im Schnee.
Ich muss mich einen Augenblick hinsetzen, dachte Oleg. Langsam ließ er sich auf den beschneiten Boden sinken.
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* Pastete aus
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