Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
langen Mänteln – die Gewehre vor sich ausgestreckt – so Unheil verkündend durch den Schnee? Es war unmöglich zu erraten, was sie vorhatten.
Vornweg ging ein Leutnant. Er hatte eine Maschinenpistole, die rechte Hand am Abzug. Die Ohrenklappen seiner Pelzmütze flatterten im Wind.
Als der Abstand nur noch dreißig Meter betrug, zog sich die russische Gruppe auseinander und bildete einen Halbkreis. So kamen sie von allen Seiten langsam und bedrohlich auf die Deutschen zu.
Oleg schluckte. Er fasste nach Nadjas Hand, weil jetzt alles Mögliche geschehen konnte. Eben hatte er noch geglaubt, Nadja werde den eigenen Soldaten froh underregt entgegenlaufen. Hatten die starren, ernsten Gesichter sie zurückgehalten? Weshalb schien keiner von den Russen froh zu sein, dass sie heil wieder zurückgekommen waren? Kurz vor den Deutschen hob der Leutnant die Hand. Seine Gruppe blieb im Halbkreis stehen. Es herrschte Totenstille.
Der Kommandant der deutschen Patrouille salutierte. Doch kein Russe erwiderte den Gruß. Unbewegt starrten sie ihre Feinde an. ›Sie würden sich eher erschießen lassen, als auch nur zu nicken‹, dachte Oleg. Verzagtheit überfiel ihn. Weshalb musste plötzlich alles so schwierig werden?
»Dolmetscher!«, rief der Leutnant.
Ein älterer Mann mit Brille trat vor.
»Frag sie, was sie hier wollen!« Die Stimme des Leutnants klang zornig. Der Dolmetscher trat einen Schritt vor und fing an zu sprechen. Er hatte Mühe mit den harten deutschen Wörtern.
Oleg schielte unter seiner Mütze hervor nach den Russen, die in der Runde standen. Er sah Misstrauen, Hass, verbissene Wut. Konnte denn keiner begreifen, dass sich die drei Deutschen als Freunde gezeigt hatten? Der deutsche Kommandant gab Antwort auf die Fragen des Dolmetschers. Würde er auch erzählen, wie er sich um Nadja gekümmert hatte?
»Sie waren auf einer Patrouille im Vorfeld«, sagte der Dolmetscher dem Leutnant. »Da haben sie die Kinder entdeckt. Das Mädchen lag erschöpft im Schnee.«
Der Leutnant nickte. Scharf sah er Oleg und Nadja an. Sein Gesicht war hart. Seine Stimme klang schroff. »Wer seid ihr?«
»Ich bin Nadja Morosowa«, erwiderte Nadja leise. Sie senkte die Augen, weil alles so völlig anders geworden war, als sie erwartet hatte.
»Und du?«
»Ich heiße Oleg, Oleg Turjenkow«, stotterte Oleg. Weshalb sah ihn der Leutnant so streng an? War er böse, weil sie sich heimlich ins Niemandsland geschlichen hatten? Oder betrachtete er es als feigen Verrat, dass sich ein russischer Junge auf dem Arm eines Deutschen hatte zurückbringen lassen? Oleg hoffte, dass Nadja alles erzählen werde: von dem Luftangriff, dem verschütteten Essen, von seiner kranken Mutter, von ihrem verstorbenen Vater und von Serjoscha, der ihr kurz vor seinem Tod den Weg zur Kartoffelmiete beschrieben hatte. Dann würde der Leutnant es wohl verstehen.
»Was habt ihr so weit außerhalb der Stadt gemacht?« Der Leutnant sah Nadja streng an.
»Wir haben Kartoffeln gesucht«, sagte Nadja leise.
»Kommt hierher!« Der Leutnant winkte mit dem Kopf. Nadja und Oleg gingen auf ihn zu. Jetzt standen sie neben den Russen, den Deutschen gegenüber. Zwei Parteien. Zwischen ihnen lagen zwei Meter Niemandsland – Land, in dem niemand »jemand« sein konnte. Oleg wagte nicht mehr, den deutschen Kommandanten anzusehen. Er schämte sich eigentlich wegen der Feindseligkeit der russischen Soldaten.
»Frag ihn, weshalb er die Kinder zurückgebracht hat!«, sagte der Leutnant zu dem Dolmetscher.
Oleg scharrte mit dem Fuß im Schnee, bis der Sand zum Vorschein kam. Ein Grashalm lag auf dem gefrorenenBoden. Über Olegs Kopf kreuzten sich die Fragen des Dolmetschers mit den Antworten des deutschen Kommandanten.
»Er sagt, die Kinder seien erschöpft und völlig hilflos gewesen«, übersetzte der Dolmetscher ins Russische. »Er sagt, wenn auch jeder für sein Land kämpfe . . . so hätten die Kinder doch schließlich den Krieg nicht gemacht, und er habe es nicht übers Herz bringen können, sie im Schnee liegen zu lassen. Es sei unmöglich gewesen, sie zu den deutschen Linien mitzunehmen. Deshalb habe er sie hierher gebracht.«
Oleg hielt den Atem an und blickte ängstlich zu dem Leutnant auf. Ob der jetzt wohl endlich begriff, dass dies gute Deutsche waren?
Plötzlich trat der russische Sergeant einen Schritt vor. Seine Stimme klang kalt wie ein Messer.
»Genosse Leutnant«, sagte er, »lassen Sie die Kerle entwaffnen. Vielleicht haben sie eine gute Tat getan, aber
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