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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Hefeteig, mit Fleisch, Fisch, Kohl, Pilzen, Eiern gefüllt

7
    Oleg saß im Schnee. Er dachte an seine Mutter. Was würde sie tun, wenn er nicht zurückkam? Sie würde niemals erfahren, dass er mit Nadja im Niemandsland gewesen war, um Kartoffeln zu holen.
    Niemandsland! Ein verrückter Name: Land, wo niemand ist! Und doch waren die Deutschen gekommen. Er hörte ihre Stimmen. Die Worte, die sie sprachen, klangen hart und scharf. Als er aufmerksam zuhörte, wurde ihm klar, dass die Deutschen untereinander nicht einig waren. Worüber der Streit ging, das verstand Oleg nicht. Einige Wörter hörte er dagegen genau: »die Kinder« und »sterben«.
    Nadja hatte sich aufgesetzt. Mit großen, ängstlichen Augen schaute sie auf die Deutschen, die sich so heftig stritten.
    »Was sagen sie, Nadja?«, flüsterte Oleg.
    »Es geht um uns«, sagte Nadja.
    Furchtsam blickte Oleg von einem Soldaten zum andern. Sie schrien sich gegenseitig an. Drei waren gegen einen von ihnen.
    »Es ist Wahnsinn! Ich gehe nicht dahin!«, rief der Soldat mit dem blonden Bart und stampfte auf den Boden. Der Soldat, der Nadja den Kognak gegeben hatte, machte dem Streit schließlich ein Ende. Das ist bestimmt der Kommandant, dachte Oleg, weil die andern nun aufmerksam zuhörten. Als er aufhörte zu sprechen, zuckte der Bärtige die Achseln. Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Dann hob er sein Gewehrauf und ging wütend in Richtung Baumreihe davon. Gespannt sah Oleg zu. Was würde nun geschehen?
    Großer Himmel! Der Soldat, der ihm die Wurst hatte schenken wollen, zog das Bajonett aus der Scheide und steckte es auf sein Gewehr. Sollte jetzt die Folter beginnen? Würden ihn die Deutschen nun erstechen? Oleg hielt den Atem an. Ein Gefühl großer Angst durchfuhr ihn.
    Aber der Soldat stach nicht zu. Er holte ein weißes Taschentuch hervor und knotete es an sein Bajonett.
    Dann geschah das Wunder: Der Kommandant ging auf Nadja zu, hob sie auf und trug sie auf den Armen. Er schlug sein Schneehemd um sie. Auch Oleg wurde aufgehoben.
    »Hab keine Angst!«, sagte der Soldat wieder. Seine Stimme klang sanft und freundlich. Die hellblauen Augen lachten, obwohl sie gleichzeitig bekümmert wirkten. Die Männer begannen ihren Marsch. Der Soldat mit dem Taschentuch am Bajonett ging vornweg. Er hielt das Gewehr in die Höhe und das Taschentuch breitete sich im Wind aus.
    »Oleg . . . Oleg!«, rief Nadja. Ihre Stimme klang wie ein Jubelschrei: »Oleg, sie bringen uns nach Leningrad zurück!«
    Es war fast nicht zu glauben! Aber sie gingen wirklich auf die Stadt zu. Wieder schaute Oleg in das Gesicht des Mannes, der ihn trug. Wie war es möglich, dass ein Feind ein so freundliches Gesicht hatte?
    »Ja, wir bringen euch nach Leningrad.« Der Soldat nickte Oleg lächelnd zu, zum Zeichen, dass alles gut werden würde.
    Jetzt lächelte auch Oleg. Er hatte begriffen, dass die drei deutschen Soldaten keine Feinde, sondern Freunde waren. Deshalb tat es ihm jetzt doppelt leid, dass er vorhin das herrliche Stück Wurst zurückgewiesen hatte. Die Stiefel knirschten im Schnee. Jeder Schritt brachte sie der Stadt näher. Das war ein herrliches Gefühl, fand Oleg. Noch ein paar Stunden, und er würde wieder zu Hause sein.
    Nachdem sie eine gute Stunde marschiert waren, blieben die Soldaten am Ende eines sich sanft neigenden Hügels stehen. Sie setzten Oleg und Nadja im Schnee ab. Ob die Deutschen eine Weile ausruhen wollten? Keuchend von der Anstrengung standen sie beieinander und dampften beinahe wie Pferde. Sie redeten eifrig und erregt und wiesen dabei in die Ferne, wo sich die russischen Stellungen und die Stadt verschwommen vor dem dunklen Schneehimmel abzeichneten.
    »Was sagen sie?«, flüsterte Oleg.
    »Ich glaube, weiter wagen sie sich nicht«, sagte Nadja. »Warum nicht?«
    »Wenn unsere Soldaten die Deutschen sehen, werden sie schießen.«
    Oleg erschrak. Daran hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Plötzlich begriff er, weshalb der Soldat mit dem blonden Bart zurückgeblieben war. Er hatte Angst vor den Russen gehabt.
    »Wirst du das letzte Stück allein laufen können?«, fragte Oleg besorgt. Die Deutschen würden wohl nicht weiter gehen und es war noch ein tüchtigesStück bis zur Stadt. Nadja zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht«, erwiderte sie leise.
    Ihre Unruhe und Unsicherheit kamen mit einem Schlag zurück. Mit großen, angsterfüllten Augen blickte Oleg nach den Deutschen. Was würden sie beschließen? Einer von ihnen schüttelte den Kopf –

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