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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ein schlechtes Zeichen.
    »Hört mal zu!«, sagte der Kommandant. Sein Gesicht wirkte ernst, doch seine Stimme klang ruhig. Die beiden andern und die Kinder hörten aufmerksam auf die fremden Laute.
    »Die Kinder . . . gefährlich . . . Leningrad . . . die Russen . . . schießen . . .«
    Abermals erlebte Oleg das seltsame Gefühl, dass diese Deutschen ihre Freunde seien. In Leningrad behauptete jeder, alle Deutschen benähmen sich viehisch, sie würden unschuldige Frauen und Kinder erschießen und alle Dörfer niederbrennen. Von diesen drei Soldaten konnte sich Oleg so etwas nicht vorstellen.
    Plötzlich kam der Kommandant zu ihm, ein bekümmertes Lächeln auf dem ernsten Gesicht. Er steckte Oleg und Nadja ein Stück Schokolade in den Mund. »Danke vielmals«, sagte Nadja höflich.
    »Ja, danke schön«, murmelte Oleg. Von Freunden durfte man wohl etwas annehmen, dachte er. Nur schade, dass er seiner Mutter nicht ein Stückchen mitnehmen konnte – vor allem jetzt, wo sie ohne Kartoffeln zurückkamen.
    Die Deutschen zogen die Schneehemden aus. Sie schoben sie, sauber zusammengerollt, zwischen die Riemen ihrer Tornister. Oleg verstand nicht, weshalbsie das taten. Jetzt standen sie in ihren feldgrauen Uniformen da, die sich deutlich von dem fleckenlosen Weiß des Schnees abhoben.
    »Weshalb tun sie das?«, fragte Oleg flüsternd.
    Nadja zuckte die Achseln.
    »Wollen sie kämpfen?« Mit diesen langen weißen Umhängen ging das vielleicht schlechter.
    »Nein«, sagte Nadja. »Das Taschentuch am Gewehr bedeutet, dass sie nicht kämpfen wollen.«
    »Bringen sie uns also doch noch ein Stück weiter?«
    »Ich denke schon«, entgegnete Nadja.
    Nadja hatte recht. Der Kommandant kam zu Oleg und hob ihn hoch. Er nickte dem Jungen zu. Zum ersten Mal wirkten seine bekümmerten Augen etwas fröhlicher. Einer der andern Soldaten nahm Nadja auf den Arm.
    »Gehen wir!«
    »Gott im Himmel!«, murmelte der Soldat, der das Gewehr mit dem Taschentuch trug. Er biss sich nervös auf die Lippe, weil er vorangehen musste.
    Wieder stapften die Soldaten in ihren schweren Stiefeln knirschend durch den Schnee. Sie gingen jetzt geradewegs auf die russischen Stellungen zu. Dazu brauchte man Mut. Ob die deutschen Soldaten überhaupt wussten, dass in Leningrad viele Menschen verhungerten? Dass bei den Luftangriffen Frauen und Kinder unter Schutt begraben wurden? Wussten sie, wie viele Väter im Ladogasee ertrunken waren? Wussten sie, wie viele Arbeiter in den Fabriken hinter ihren Maschinen vor Erschöpfung tot zusammengebrochen waren? Hass und bittere Gefühle der Vergeltung erwarteten sie.
    Gespannt starrte Oleg in die Ferne. Ob seine Landsleute schießen würden, wenn sie die drei Deutschen in ihren feldgrauen Uniformen näher kommen sahen? In einem Kampf um Leben und Tod gab es keine Gnade. Musste er seine neuen Freunde vor der Gefahr warnen? Oder war das Verrat an seinem Vaterland?
    Oleg zupfte den Kommandanten am Ärmel und wies auf die russischen Stellungen. »Pumm-pumm!«, machte er, um anzudeuten, dass geschossen werden würde.
    »Danke, ich weiß.« Der Kommandant nickte zum Zeichen, dass er begriffen hatte, und ging ruhig weiter.

8
    Ein Schuss, und dann noch einer. Mit einem Ruck blieben die Deutschen stehen und starrten gespannt in die Ferne. Oleg hielt den Atem an. Ob der Kampf jetzt begann?
    »Sie kommen!«, rief der Kommandant. Er setzte Oleg im Schnee ab und zeigte auf eine vorgeschobene Stellung im Vorfeld. Mindestens fünfzehn russische Soldaten tauchten auf. Nebeneinander liefen sie über die schneebedeckte Fläche, die Gewehre schussbereit in den Händen.
    »Sie wollen uns holen!«, rief Nadja erfreut. Ihre großen braunen Augen strahlten.
    »Aber warum haben sie dann geschossen?«, fragte Oleg. Er war nicht so überzeugt davon, dass man ihn und Nadja holen wollte.
    »Es waren Warnschüsse«, sagte Nadja. »Sie wollen nicht, dass die Deutschen ihren Stellungen zu nahe kommen.« Nadja fasste nach Olegs Hand und lachte ihm zu. »Nun brauchst du keine Angst mehr zu haben.«
    Doch Oleg hatte Angst. Der Deutsche neben ihm hob das Gewehr mit dem flatternden Taschentuch noch etwas höher in die Luft. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Der Kommandant griff mit unsicherer Hand nach seinem Koppel.
    Mit pochendem Herzen schaute Oleg die russischen Soldaten an, die über das beschneite Feld näher kamen. Er war froh, sie zu sehen. Aber weshalb wirkten ihre Gesichter so starr und verbissen? Weshalb stapften sie in ihren

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