Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Männer, Frauen und Kinder eifrig bei der Arbeit. An der Ecke einer brennenden Straße stand Hausrat im Schnee aufgestapelt. Eine Frau saß regungslos zwischen ihrer Habe. Zwei Männer trugen eine Bahre zu einem Krankenwagen. Oleg dachte an seine Mutter. Ob sie sich große Sorgen machte, weil er noch nicht zu Hause war? Keinen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass die eigene Wohnung in einen Trümmerhaufen verwandelt worden sein könnte. In Leningrad geschahen die schrecklichsten Dinge. Aber dass das eigene Haus getroffen werden könnte, das war einfach undenkbar. Das war etwas, was man nicht glauben wollte und nicht glauben konnte.
Sie mussten bis zum Winterpalast fahren und ein Stück am windigen Ufer der Newa entlang, bevor sie zu ihrem Viertel abbiegen konnten. Endlich waren sie in ihrer Straße.
Der Soldat fuhr langsamer. Sie kamen am Haus von Wiktor Sorow vorbei und auch an dem, in dem früher Stipolew gelebt hatte.
»Hier wohnt Oleg«, sagte Nadja.
Der Lastwagen hielt. Der Soldat öffnete die Tür und Oleg ließ sich aufs Trittbrett hinunter.
»Auf Wiedersehen! Und vielen Dank fürs Nach-Hause-Bringen!« Dann sah Oleg Nadja an. Sollte er mit ihr mitgehen? Oder würde sich der Soldat um sie kümmern? Nadja lächelte Oleg in einer Art an, wie es seine Mutter tat. Wenn er erwachsen wäre, würde er sie heiraten. Das wusste er jetzt ganz genau.
»Auf Wiedersehen, Oleg«, sagte Nadja.
»Auf Wiedersehen, Nadja«, rief er. Er sprang zu Boden und der Soldat zog die Tür zu. Der Wagen fuhr davon. Langsam ging Oleg ins Haus.
10
Onkel Wanja war gekommen. Das sah Oleg sofort, als er ins Zimmer trat. Groß und breit saß er auf einem Stuhl neben dem Bett seiner Mutter. Er stand auf, als er Oleg sah.
»Verdammter Bengel!«, polterte er. Onkel Wanja polterte immer. Das war nun einmal seine Art von Herzlichkeit.
»Wo hast du gesteckt? Wo kommst du jetzt her?«
Seine Mutter richtete sich auf. Sie hatte geweint, doch diesmal machte sie sich nicht die Mühe, es zu verbergen. »Oleg, Oleg!«, rief sie. Sie streckte die Arme aus und sah ihn durch ihre Tränen so erleichtert und glücklich an, als ob sie die Wurst, das Brot und die kleine Büchse schon gesehen hätte.
»Leichtsinniger Lümmel!«, brummte Onkel Wanja. Er schob Oleg zum Bett, damit ihn seine Mutter umarmen konnte. Sie tat das so heftig, dass es Oleg in Erstaunen versetzte.
»Der Luftangriff ist schon so lange vorbei und du bist einfach nicht wiedergekommen«, sagte seine Mutter sanft. Natürlich hatte sie sich große Sorgen gemacht.»Sie hat geglaubt, dass du irgendwo tot unter einem Trümmerhaufen liegst!« Onkel Wanja versetzte ihm gutmütig einen dröhnenden Schlag auf die Schulter. »Ich hatte doch gesagt, dass ich mit Nadja weggehen wollte«, entgegnete Oleg.
»Aber du hast nicht gesagt, wohin!«, polterte Onkel Wanja. »Du hättest ebenso gut in der Linowstraße stecken können.«
»Wieso?«, fragte Oleg.
Onkel Wanja sah ihn kopfschüttelnd an. »Die Linowstraße gibt’s nicht mehr, Junge. Da hat es vier Volltreffer gegeben. Wenn du da gewesen wärest . . .«
Oleg nickte. Es tat ihm wirklich leid, dass sich seine Mutter unnötig Sorgen gemacht hatte. Ein wenig beschämt schaute er auf Onkel Wanjas Schnurrbart, der trübselig nach unten hing.
Onkel Wanja war bestimmt gekommen, um über die Evakuierung zu reden. Hatte er seiner Mutter bereits versprochen, ihn auf die Liste zu setzen? Würde er mitmüssen, wenn die Lastwagen wieder über den Ladogasee fuhren? »Ich hab mit Nadja was zu essen gesucht«, sagte Oleg rasch. Er wollte seiner Mutter und Onkel Wanja endlich beweisen, dass er kein Kind mehr war. Mit zitternden Fingern knöpfte er den Mantel auf. Ohne ein Wort legte er die Wurst, das Brot und die Büchse auf den Tisch neben dem Bett.
Ja, da staunten sie! Das war deutlich zu sehen.
»Großer Gott!«, rief Onkel Wanja. »Wie bist du denn daran gekommen?« Er nahm die Wurst in die Hand und sah sie verwundert an. »So ein Ding ist in ganz Leningrad nicht zu finden!«
»Ich hab sie von einem Deutschen bekommen«, erklärte Oleg und wieder blieb den beiden Älteren der Mund vor Staunen offen stehen. Da erzählte Oleg, wie er sich mit Nadja ins Niemandsland geschlichen hatte, wie kalt und weit der Weg gewesen sei und wie er, als Nadja im Schnee lag, auf einmal den großen deutschen Stiefel neben sich hatte stehen sehen.
»Ach, du verdammter Lümmel, du elender Lausebengel!«, murmelte Onkel Wanja. Oleg erzählte weiter. Er sah, dass seine
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