Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
vielleicht sind sie auch gekommen, um unsere Stellungen auszuspionieren. Lassen Sie sie gefangen nehmen und hinter der Front verhören. Nach allem, was bisher im Krieg geschehen ist, habe ich den Glauben an gute Deutsche verloren.«
    Erschrocken blickte Oleg auf. Er sah, dass der Leutnant zögerte. Nadja fasste nach Olegs Arm und sah verstört den Feldwebel an.
    »Nein, das dürft ihr nicht«, flüsterte sie. Doch niemand von den Erwachsenen hier im Niemandsland hörte es.
    »Glaubt doch diesen Schurken nicht!«, rief der Soldat, der schräg hinter Nadja stand. Hass loderte inseinen Augen auf. Wie viel Leid mochte sich da angehäuft haben, dass es ein solches Ventil suchte!
    »Legen Sie sie doch um, Genosse Leutnant! Schießen Sie sie über den Haufen!« Er flehte fast, während er einen Schritt vorwärts tat und das Gewehr auf den deutschen Kommandanten richtete.
    Da sprang Oleg vor. Er stellte sich vor den Deutschen und hob die Hände hoch, als ob er ihn damit beschützen könne.
    »Nicht schießen!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Nicht schießen! Sie haben uns gerettet.«
    Eine Weile war es totenstill. Niemand sprach ein Wort. Niemand bewegte sich.
    »Komm hierher!«, befahl der Leutnant.
    Doch Oleg kam nicht. Er blieb unerschütterlich vor dem Deutschen stehen. Tränen um all den Hass, all die Angst, all die Ungerechtigkeit des Krieges schossen ihm in die Augen.
    »Nadja hat im Schnee gelegen!«, schrie er seinen Landsleuten zu. »Sie hat nicht mehr geantwortet! Ich konnte sie doch nicht tragen. Ich hab’s versucht, aber ich habe es nicht geschafft.« Dann zeigte er auf den Deutschen hinter sich. »Er hat sie getragen. Er ist mein Freund!« Außer sich schlug Oleg gegen seine Brust. »Mein Freund! Hört ihr! Mein Freund!« Er weinte in leidenschaftlichem Zorn.
    Nadja lief auf ihn zu. »Oleg, Oleg!«, sagte sie beruhigend, denn der Junge zitterte vor Wut und Verzweiflung.
    Da spürte Oleg eine schwere Hand auf der Schulter, die Hand eines Freundes. Er blickte zu dem Deutschenauf. Durch seine Tränen sah er, dass ihm der Kommandant zulächelte. Die Angst verschwand aus seinen nassen Augen.
    Dann blickte Oleg zu dem russischen Leutnant hinüber. Die verbissene Härte auf seinem Gesicht hatte einem Ausdruck der Verwunderung Platz gemacht. Der Soldat, der hatte schießen wollen, hatte den Gewehrlauf sinken lassen und scharrte mit den Füßen im Schnee. Andere Soldaten hatten die Augen niedergeschlagen. Der Sergeant starrte auf Nadja. Es war abermals totenstill.
    Der Leutnant winkte dem Dolmetscher. »Sag ihnen, sie können gehen, Iwan Petrowitsch!« Er zögerte einen Augenblick, als suche er nach Worten. »Sag ihnen außerdem, dass wir ihnen dankbar sind. Es wäre schlimm, wenn in diesem Krieg alle Menschlichkeit verloren ginge.«
    Der Dolmetscher übersetzte die Nachricht.
    Die deutschen Soldaten wollten schon kehrtmachen, doch der Kommandant blieb stehen.
    »Einen Augenblick, bitte«, sagte er. Er zog seinen Brotbeutel nach vorn und kniete vor Oleg und Nadja hin.
    »Hier«, sagte er und legte ein Stück Brot, eine Wurst und eine Büchse mit fremdländischer Aufschrift vor die beiden hin. Noch einmal spürte Oleg den vertrauten Druck der großen Hand auf der Schulter. Dann erhob sich der Kommandant. Langsam sah er sich im Kreis um, mit dem gleichen bekümmerten Lächeln, das Oleg schon zuvor auf seinem Gesicht gesehen hatte, schlug die Hacken zusammen und grüßte –stramm und aufgerichtet, wie es die deutschen Soldaten gewöhnt sind.
    Und endlich geschah etwas Gutes an diesem langen, elenden Tag. Der junge Leutnant der Roten Armee nahm Haltung an. »Abteilung stillgestanden!«, rief er. Alle Russen standen still. Langsam hob der Leutnant die rechte Hand an die Pelzmütze. Es war, als ob er den drei Deutschen eine Ehrenbezeigung erwiese für ihren Mut, ihre Hilfe, ihre Menschlichkeit.
    Oleg sah dem deutschen Kommandanten nach. Er hätte sich gern noch einmal bei ihm bedankt, doch die Deutschen hatten bereits kehrtgemacht. Mit kräftigen Schritten ging der Kommandant zwischen den beiden anderen Deutschen auf den sanft ansteigenden Hügel in der Ferne zu: ein »Jemand« im Niemandsland.
    Nadja winkte zögernd, doch die Deutschen drehten sich nicht noch einmal um.
    Das verschneite Land lag nicht mehr als unbeschriebenes Blatt unter dem grauen Himmel. Die deutschen Soldatenstiefel hatten eine Botschaft in den Schnee geschrieben.

9
    In der vorgeschobenen Stellung der russischen Soldaten bekamen Nadja

Weitere Kostenlose Bücher