Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Worte Eindruck machten, denn seine Mutter und Onkel Wanja blickten sich immer wieder bestürzt an. Jetzt mussten sie ja endlich begreifen, dass er für eine Evakuierung zu groß war.
    Doch als er seinen Bericht beendet hatte, blieben die bewundernden Worte aus.
    »Aber Junge!«, sagte seine Mutter. Sie hatte wieder Tränen in den Augen. Oleg verstand wirklich nicht, warum. Es gab doch jetzt nichts mehr zu weinen.
    Seine Mutter wollte ihn an sich ziehen, doch Onkel Wanja kam ihr zuvor. Er legte dem Jungen seine große Hand auf die Schulter.
    »Nun musst du einmal genau zuhören, Oleg!«, sagte er ernst. »Deine Mutter und ich haben heute Nachmittag lange über dich gesprochen. Wir haben beschlossen, dich zu Olga Petrowna zu schicken. Sie wohnt in Swerdlowsk und ist unsere Kusine.«
    Oleg glaubte nicht recht zu hören. Swerdlowsk war weit weg von Leningrad. Dorthin zu müssen war ein solcher Schock für ihn, dass es ihn in der Kehle würgte und er eine Weile kein Wort hervorbrachte. Entrüstet blickte er auf die Wurst und das Brot auf dem Tisch.Dort lagen doch die Beweise, dass er kein Kind mehr war.
    »Es ist wirklich besser, mein Junge«, sagte seine Mutter. Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Olga Petrowna ist eine gute Frau. Du wirst es gut bei ihr haben.«
    »Und . . . und du?« Krampfhaft bemühte sich Oleg, das Würgen in der Kehle herunterzuschlucken.
    »Ich ziehe zu Onkel Wanja.«
    »Und unsere Wohnung?«
    »Wenn der Krieg zu Ende ist, wohnen wir hier wieder zusammen«, sagte seine Mutter mit dem tapferen Lächeln, das Oleg so gut an ihr kannte. So lächelte sie auch dann, wenn es eigentlich gar nichts zu lächeln gab.
    »Ich werde alles für die Reise vorbereiten«, sagte Onkel Wanja.
    »Ich fahre nicht«, erklärte Oleg entschlossen. »Ich will nicht.«
    »In einem Krieg kann man nicht immer das tun, was man will, Junge!« Onkel Wanjas Stimme klang sanfter, als sie jemals geklungen hatte.
    »Trotzdem will ich hier nicht weg«, beharrte Oleg halsstarrig.
    »Niemand will die Dinge, die geschehen, und dennoch geschehen sie.« Onkel Wanja zog Oleg an sich. »Keine Frau will, dass ihr Mann als Soldat an die Front geht. Dennoch fährt er ab. Kein Mann will, dass seine Frau hungers stirbt. Dennoch stirbt sie.« Onkel Wanja sah Oleg durchdringend an. »Du musst die Stadt verlassen.«
    »Sollen doch erst die andern Kinder fahren!«
    »Wir haben nicht zu wählen, Oleg. Niemand hier hat das Recht zu wählen.«
    Oleg wandte sich seiner Mutter zu, ob er von ihr Unterstützung erwarten konnte. Doch als er sie ansah, begriff er, dass seine Reise nach Swerdlowsk unabwendbar war. Er las es in ihren Augen. Ihr Kopf war müde in die Kissen zurückgesunken.
    »Olga Petrowna ist ein sehr guter Mensch«, sagte seine Mutter. Doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Lippen bei diesen Worten zitterten. Sie fand es entsetzlich, dass Oleg wegsollte. Und Oleg wusste, dass alles nur noch schlimmer für sie würde, wenn er sich weiter weigerte. Wenn er jetzt abermals erklärte, er wolle nicht fort, dann musste seine Mutter auch noch mit seiner Weigerung fertigwerden. Sein Kummer war ihr Kummer; seine Angst war ihre. So war seine Mutter nun einmal.
    Ich muss tapfer sein, dachte er. Ich muss ihr meinen Teil an Kummer ersparen, wie sie es auch für mich tut. Onkel Wanja stand auf. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. Er beugte sich über das Bett, gab Olegs Mutter einen Kuss und danach Oleg einen gutmütigen Klaps auf die Schulter. »Ich bereite alles vor, mein Junge.« Oleg schwieg. Es kostete ihn schon viel Mühe, der Mutter zuzulächeln.
    Oleg war auf dem Stuhl eingeschlafen. Während sie von dem Brot und der Wurst aßen und seine Mutter von früher und von Olga Petrowna erzählte, war er fest eingeschlafen. Er hatte nicht einmal gemerkt, dassseine Mutter aufgestanden war und ihn ins Bett gebracht hatte. Nur dass sie ihm einen Gutenachtkuss gab, das hatte er gefühlt. Und dann hatte er geträumt . . .
    Die Newa lag zugefroren unter einem grauen Schneehimmel. Die Lastwagen waren zur Abfahrt bereit. Am Ufer, dem Palast gegenüber, in dem Zar Peter der Große gewohnt hatte, standen Hunderte von Kindern. Sie hatten Taschen und Binsenkörbe bei sich und trugen einen Zettel mit Namen und Adresse auf der Brust. Weinende Mütter umringten die Kinder. Nadja kam auf ihn zu. Ob sie auch nach Swerdlowsk fuhr? Sie streckte ihm die Hand entgegen.
    »Komm nur, Oleg!« Sie liefen über das Eis an den wartenden Kindern und den bereitstehenden

Weitere Kostenlose Bücher