Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Lastwagen vorbei. Einen Augenblick glaubte Oleg, er sehe seinen Vater zwischen den Fahrern stehen. Gar zu gern wäre er zu ihm gegangen und hätte ihm gesagt, dass er nicht nach rechts ausweichen dürfe. Doch Nadja zog ihn schon weiter.
»Hier entlang!«, sagte sie immer wieder. Plötzlich war nichts mehr zu sehen – nur das Eis. Gemeinsam liefen sie durch eine verlassene weiße Welt.
Oleg drehte den Kopf auf dem Kissen hin und her, weil er unbewusst vorherahnte, was nun geschehen würde. Er murmelte etwas im Schlaf.
»Kannst du gar nicht schlafen?«, fragte seine Mutter leise. Sie bekam keine Antwort. Im Traum lief Oleg mit Nadja über den zugefrorenen Ladogasee. Wusste Nadja denn nicht, dass es Waken im Eis gab? Viele tiefe Risse waren verräterisch unter der dünnen Schneeschicht verborgen!
Nadja lachte. Sie hatte keine Angst. »Es ist nicht mehrweit«, sagte sie entschlossen. Meinte sie Swerdlowsk, das irgendwo im Ural lag? Vor ihnen dehnte sich eine endlos weiße Fläche bis zum Horizont aus. Oleg sah das Mädchen fragend an. Nadja lächelte, doch anders, als sie es sonst tat.
»Auf Wiedersehen, lieber Oleg«, sagte sie. Sie gab ihm einen Kuss und auch das hatte sie noch nie getan. In ihren großen braunen Augen sah Oleg, dass sie Abschied von ihm nehmen wollte. Er hätte sie gern gefragt, ob sie nicht nach Swerdlowsk mitkommen wolle, doch plötzlich konnte er kein Wort hervorbringen. Der Atem blieb ihm in der Kehle stecken. Neben ihm im Schnee stand ein großer deutscher Soldatenstiefel. Oleg holte die Pistole heraus, denn er dachte an den Soldaten mit der blutigen Hand im Wartezimmer von Dr. Ilja Iwanow. Ein Feind konnte nie ein Freund sein! Oleg wollte schießen, doch der Stiefel war verschwunden. Aber da war ein dunkler Fleck im Schnee. War das eine Wake? Schwamm dort in der Tiefe das Wassertier mit dem großen Maul voller kleiner spitzer Zähne? Ein Riss zog sich plötzlich durch das Eis. Wasser blubberte hervor. Wie dünn war das Eis darunter? Mit pochendem Herzen versuchte sich Oleg vorsichtig von der gefährlichen Stelle wegzuschieben. Immer neue Risse zersplitterten das Eis.
Olegs Füße bewegten sich unter der Bettdecke. Sein rechter Arm hing in der Luft, als müsse er das Gleichgewicht bewahren. Er schüttelte den Kopf, weil er, ohne es zu wissen, wusste, was kommen würde.
Da erklang wieder das Rattern. In der Ferne fuhren die Lastwagen im Zickzack über das Eis. Der Tod fuhr mit. Oleg rannte über die beschneite Fläche. Überall waren Waken.Immer wieder musste er plötzlich das Tempo mäßigen. Manchmal rutschte er dann bis dicht an das dunkle Wasser. Er musste zu seinem Vater. Er rannte dem Konvoi entgegen. Oleg bog warnend zu dem ersten Lastwagen ab. In dem saß Solymski mit seinem Beifahrer. Rutschende Räder . . . berstendes Eis . . . aufspritzendes Wasser! Einen Augenblick schien der Wagen zu zittern, bis das Eis unter den Rädern brach. Sofort tauchte die Nase des Lasters zwischen den Schollen unter. Langsam, quälend langsam versanken Solymski und sein Beifahrer in der Tiefe . . . Wo war sein Vater? In panischer Angst rannte Oleg zwischen den Lastwagen dahin.
»Nadja, Nadja!«, rief er in seiner Angst. Nur Nadja konnte ihm helfen, seinen Vater zu finden. Aber Nadja war nirgends zu sehen. Oleg hörte nur ihre Stimme – aus großer Entfernung und großer Höhe, als käme sie aus dem Himmel: »Leb wohl, Oleg!«
Oleg blickte hoch. Aus einem dunklen Loch im Himmel erklang das Unheil verkündende Dröhnen eines Jagdflugzeugs. Es tauchte aus den Sternen nach unten. Die Maschinengewehre ratterten.
Oleg blieb unbeweglich stehen. Der Wagen Iwans kippte. Pawlitschkos Windschutzscheibe zersplitterte. Und da war sein Vater, der nach rechts auswich! Unter dem Eis kam das entsetzliche Wassertier näher geschwommen.
Jetzt geschah etwas, was ihm in seinem Traum noch niemals zugestoßen war: Der Kommandant der deutschen Patrouille stand plötzlich neben ihm. Er nickte Oleg ermutigend zu, als wolle er ihm sagen, dass er keine Angst zu haben brauche. Dann nahm er Oleg auf die Arme und trug ihn über die weiße Fläche zur Stadt. Die Waken waren verschwunden.
Das Wassertier schwamm nicht mehr. Es war, als ob im
Traum eine neue Seite aufgeschlagen worden sei.
Unversehrt lag das verschneite Land jetzt unter dem grauen Himmel. Das Einzige, was noch zu sehen war, waren die Abdrücke von Soldatenstiefeln.
Ein Lächeln zog über Olegs Gesicht. Seine Hände auf der Bettdecke entspannten sich. Der
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