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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Geschützkuppeln aus Beton und nach den Laufgräben geschaut.
    Später werde ich hier auch entlanglaufen, hatte er gedacht.Später, wenn er erst Soldat war. Doch plötzlich schien ihm das nicht mehr so erstrebenswert zu sein. Er dachte an die drei Deutschen, die Nadja und ihn zu dem vorgeschobenen russischen Gefechtsposten getragen hatten. Wenn man Soldat war, musste man auch auf gute Deutsche schießen. Und man wusste schließlich nie, auf wen man zielte. Es konnte gut sein, dass er später – als Soldat – auf den Kommandanten der kleinen Patrouille würde schießen müssen, die Nadja und ihn getragen hatte. Dieser Gedanke brachte Oleg in Verwirrung. Plötzlich fand er es gar nicht mehr so gut, Soldat zu sein. Vor einem kleinen hölzernen Gebäude hielt der Lastwagen. Der Soldat trug Nadja zu Dr. Ilja Iwanow, einem kleinen Mann mit Brille, der fluchte, als er das Mädchen sah. Weil es keiner verbot, ging Oleg mit. In einem Wartezimmer setzte er sich auf einen Stuhl – einem Soldaten gegenüber, dessen Hand mit einer blutigen Binde umwickelt war. Es roch nach Lysol und Krankenhaus.
    Oleg wagte nicht, den Verband genau anzusehen. Er hing auf sonderbare Weise schief am Arm, als ob die Hand halb abgerissen wäre. Aber dann musste er doch auf den Verband schauen, denn der Soldat nickte Oleg zu und fing ein Gespräch mit ihm an.
    »Wie kommt ihr denn hierher, Jungchen?«
    Oleg erzählte, was geschehen war.
    »Und die Deutschen haben euch wirklich zu unserer Stellung gebracht?« Der Soldat machte ein so ungläubiges Gesicht, dass es aussah, als hätte er all seine Schmerzen vergessen.
    »Es waren gute Deutsche«, sagte Oleg mit Nachdruck.»Die einzig guten Deutschen sind tote Deutsche«, entgegnete der Soldat.
    Mit dem gesunden Arm stützte er vorsichtig die verwundete Hand. Oleg hätte ihm gern erzählt, wie der deutsche Kommandant neben Nadja niedergekniet war. An der Art, wie er ihr Kognak zu trinken gegeben hatte, hätte jeder gleich sehen können, dass er ein guter Mann war. Doch der Augenblick schien Oleg nicht geeignet, so etwas zu erzählen.
    »Haben Sie arge Schmerzen?«
    Der Soldat hob die Schultern.
    »Haben die . . .« Oleg zögerte eine Weile. »Haben die Deutschen das getan?«
    Der Soldat nickte. Der Schmerz in seinen Augen wich wieder dem Hass. »Wir waren auf Patrouille. Die Mistkerle lagen in ihren weißen Schneehemden in einem Graben. Wir haben sie erst gesehen, als es schon zu spät war.« Er blickte auf den blutigen Verband. »Ich habe noch Glück gehabt«, sagte er leise, fast zu sich selbst. Er starrte durch das kleine Fenster nach draußen.
    Oleg erschrak. Langsam beschlich ihn ein erbärmliches Gefühl. Ob seine guten Deutschen vielleicht auf diesen Soldaten geschossen hatten?
    »Wie viele waren es?«, fragte er flüsternd.
    »Vier!«, sagte der Soldat. »Und wir konnten die Schurken nicht einmal zu fassen kriegen!«
    Bekümmert und voller Scham blickte Oleg zu Boden. Was musste dieser Soldat nun von ihm denken? Konnte ein Feind jemals ein Freund sein? Und doch waren es gute Deutsche gewesen. Man konnte daseinem Soldaten, dem gerade die Hand kaputt geschossen worden war, nur nicht erklären.
    Oleg wusste deshalb nicht recht, was er sagen sollte. Zum Glück öffnete sich da die Tür zum Sprechzimmer. Dr. Ilja Iwanow ließ den Soldaten vom Lastwagen, mit Nadja auf dem Arm, hinausgehen. Gott sei Dank! Nadjas Augen waren wieder wie immer.
    »Vergiss nicht, genau das zu tun, was ich dir gesagt habe!«, mahnte der Arzt. Er kniff Nadja freundlich in die Wange. Dann nickte er dem Soldaten mit der verletzten Hand zu, er möge hereinkommen.
    Oleg hätte dem Mann gern alles Gute gewünscht, doch der Soldat vom Lastwagen winkte ihm, er solle mitkommen. Nadja lächelte Oleg zu.
    »Bist du wieder gesund?«, fragte der.
    »Ja«, entgegnete Nadja. »Ich habe eine Spritze bekommen.«
    »Hat’s wehgetan?«
    »Ein bisschen.«
    Sie wurden auf den Laster gehoben. Der Soldat ließ den Motor an und Oleg rückte dicht neben Nadja. Jetzt war alles in Ordnung. Er freute sich darauf, nach Haus zu kommen mit seiner Wurst, dem Brot und der Büchse.
    Die Fahrt durch die Stadt dauerte lange. Immer wieder mussten sie Umwege fahren, weil Trümmerhaufen ihnen den Weg versperrten. Die Bomben der Flugzeuge, die auf dem Hinweg über die Stadt geflogen waren, hatten diese schwer mitgenommen. Hier und da züngelten noch kleine Flammen aus verkohlten, qualmenden Schutthaufen.
    Die Dämmerung sank herein, doch noch überall waren

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