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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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und Oleg einen Becher warmen Tee und eine halbe Scheibe Brot. Das war sehr freundlich,denn auch die Soldaten erhielten nur kleine Rationen, wenn ihre Verpflegung auch besser war als die der Menschen in Leningrad. Hungrige Soldaten würden zu schwach sein, um gut zu kämpfen.
    In dem engen Raum zwischen den Sandsäcken brannte ein Kanonenofen. Es war behaglich dort. Nach wenigen Minuten schon spürte Oleg, wie ihm die Backen glühten. Der Leutnant lief mit gerunzelter Stirn hin und her, als ob er mit irgendetwas nicht fertigwerden könne. Immer wieder sah es so aus, als wolle er etwas sagen, doch jedes Mal, wenn er nach Nadja schaute, schluckte er die Worte hinunter. Wollte er warten, bis die Kinder mit ihrem Tee und dem Brot fertig waren? Oleg aß rascher. Er stieß Nadja an, sie solle sich beeilen, denn sie biss immer nur so winzige Häppchen von ihrem Brot ab, dass man glauben konnte, sie habe überhaupt keinen Hunger. »Beeil dich doch ein bisschen!«, flüsterte Oleg ihr zu. Man konnte doch einen Leutnant der Roten Armee nicht so lange warten lassen! Sie beide würden bestimmt gleich ausgeschimpft werden, wenn sie nicht sogar eine strenge Strafe bekamen. Trotzdem tat es Oleg nicht leid, dass er Nadja begleitet hatte. Unter dem Mantel hatte er das Brot und die Wurst, die er von dem Deutschen erhalten hatte. Seine Mutter würde heute Abend also doch etwas zu essen haben, wenn nicht . . . Erschrocken sah Oleg den Leutnant an. Der lehnte jetzt mit verschlossenem Gesicht an einem Stapel Munitionskisten und starrte gedankenverloren zu Boden. Er würde ihm doch nicht zur Strafe das Essen wegnehmen? Der Leutnant schauteauf und Oleg senkte schnell den Blick. Ohne es zu wollen, drückte er Wurst und Brot fester an sich.
    Der Leutnant stellte sich vor ihn. »Wie seid ihr eigentlich in das Vorgelände gekommen?«, fragte er.
    Weil Nadja das Brot wieder zum Mund geführt hatte und vor sich hin starrte, als ob es gar keinen Leutnant gäbe, antwortete Oleg auf die Frage. »Wir sind unter der Brücke durchgegangen, dann weiter an dem kleinen Fluss entlang. Da war ein Loch in der Stacheldrahtsperre . . .«
    Der Leutnant schaute Nadja an. »Haben eure Eltern gewusst, wo ihr hinwolltet?«
    Nadja antwortete nicht und Oleg verstand, weshalb sie es nicht tat. »Sie hat keinen Vater mehr«, sagte er leise. Der Leutnant nickte. Oleg sah jetzt, dass der Offizier nicht böse war.
    »Woher wusstet ihr, wie ihr gehen musstet?«
    »Serjoscha, Nadjas großer Bruder, hat es ihr erklärt«, sagte Oleg nach kurzem Zögern.
    »Und weshalb ist der große Bruder dann nicht selbst gegangen?«
    Oleg wagte nicht, Nadja anzusehen. »Serjoscha ist heute Nacht gestorben«, sagte er leise und hoffte, dass Nadja es nicht hörte.
    Es war sehr still in dem kleinen Unterstand der Stellung. Der Leutnant hatte sich umgedreht. Oleg warf von der Seite einen Blick auf Nadja. Da erst entdeckte er, dass sie ohnmächtig geworden war. Seltsam zusammengesunken hing sie da, an einen Sandsack gelehnt. Ihre Augen waren nach oben verdreht.
    »Nadja!«, rief Oleg erschrocken, doch jetzt wenigerängstlich als beim ersten Mal. Der Leutnant hatte es ebenfalls entdeckt. Er rief einem Soldaten, der draußen Posten stand, einen Befehl zu und beugte sich dann über Nadja, knöpfte ihr den Mantel auf und legte ein Ohr auf ihre Brust.
    »So hat sie auch im Schnee gelegen«, sagte Oleg. »Die Deutschen haben ihr Kognak gegeben.« Dass sie auch Schokolade bekommen hatte, erwähnte er gar nicht erst. Denn Schokolade würde der Leutnant wohl nicht besitzen.
    Draußen wurde ein Auto angelassen. Ein Soldat kam herein und meldete, dass ein Wagen bereitstehe. Der Leutnant wickelte Nadja in eine Decke und hob sie auf, als wäre sie eine Feder. Vielleicht war sie das auch, dachte Oleg, denn sie war sehr mager.
    »Fahr sie wie der Blitz zu Dr. Ilja Iwanow!«, sagte der Leutnant. Er selbst musste natürlich hierbleiben.
    Als Oleg das kleine Stück von der Stellung zum Lastwagen lief, merkte er erst richtig, wie müde er war. Am liebsten hätte er sich auf den Boden gelegt und wäre eingeschlafen. Aber ersah ein, dass das nicht möglich war. Er musste jetzt auf Nadja aufpassen. Als er auf den Laster gehoben wurde, stellte er zufrieden fest, dass der Leutnant weder mit ihm geschimpft noch ihm Wurst und Brot abgenommen hatte. Sie waren durch die Linien gefahren: vorüber an Stacheldrahtabsperrungen, Panzerfallen, Wachtposten. Voller Interesse hatte Oleg nach den Maschinengewehrnestern, den

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