Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Tisch zu, wo die Suppe ausgeteilt wurde. Ob es diesmal etwas anderes war als Rübensuppe? Die Frau vor Oleg war jetzt an der Reihe. Aufmerksam achtete er auf die Kellen, die sie bekam. Die Suppe schien nicht so gut zu sein wie die am Tage zuvor. Die Frau schnupperte daran. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf, als ob sie nicht begreifen könne, dass sie sich für diese dünne, wässrige Suppe so lange hatte anstellen müssen. Dennoch lachte sie dem Koch zu, weil der auch nichts daran ändern konnte.
»Morgen kriegen wir gewiss geschmolzenen Schnee«, sagte sie im Scherz.
Der Koch lachte auch. »Schneesuppe und Eis als Nachtisch! Mütterchen, was verlangst du noch mehr!« Die Frau lachte, aber es kam ihr nicht von Herzen. Dann nahm sie den Topf auf und ging davon.
Oleg stellte seinen Topf auf den Tisch und gab die Lebensmittelkarte ab. Der Koch hatte den gleichen Ausschlag am Mund wie seine Mutter. Bei einem Koch hätte man das eigentlich nicht erwartet.
Als Oleg nach Hause ging, schneite es. An den Straßenecken trieben die Flocken in tollen Wirbeln nach allen Richtungen. Es war, als ob ein weißer Schleier über die Stadt gezogen würde. Die Welt wurde stiller, kleiner, geheimnisvoller. Selbst die Geschütze in der Ferne waren kaum noch zu hören.
Vor Nadjas Haus blieb Oleg abermals stehen. Jetzt wagte er, zu den Fenstern des ersten Stockwerks hinaufzuschauen. Niemand war zu sehen. Nichts bewegte sich. Er hatte erwartet, dass Nadja aus dem Fenster dem Schneetreiben zuschauen würde. Das war etwas, was sie gern tat. Wenn sie nach Schneeflocken schaute, dachte sie sich die verrücktesten Dinge aus: dass die Flocken Fangen spielten oder einen Tanzwettbewerb veranstalteten, dass die Wolken und Sterne genug davon hatten, immer nur auf eine nasse graue Erde hinabzublicken, und ähnliche lustige Dinge. Schade, dass Nadja nicht kam, aber er wollte doch nicht länger warten. Der Schnee fiel immer dichter.
›Wenn ich noch länger hier stehen bleibe, werde ich ein Schneemann‹, dachte er. Das einzige Vorrecht,das Schneemänner hatten, war, dass sie nicht zu Olga Petrowna nach Swerdlowsk geschickt werden konnten. Noch einmal warf Oleg einen Blick zum ersten Stock hinauf, dann ging er mit raschen Schritten durch die weiße Welt nach Hause.
Mit dem Holz, das Onkel Wanja mitgebracht hatte, wärmte Oleg die Suppe auf dem kleinen Öfchen in der Zimmerecke auf. Nach dem Essen spielte er mit seiner Mutter drei Partien Schach und gewann alle drei.
»So schlecht hast du noch nie Schach gespielt«, meinte er.
»Oder du bist heute besonders gut«, sagte die Mutter. Aber Oleg wusste schon, woran es lag. Seine Mutter hatte an andere Dinge gedacht.
Danach arbeitete Oleg an den Schulaufgaben, die er in den verlängerten Weihnachtsferien machen musste. Weit kam er jedoch nicht damit, weil es früh dunkel wurde. Es schneite immer noch. Er ging bald ins Bett. Und das war eigentlich die schönste Stunde des Tages: wenn er im Bett lag, es richtig warm hatte und mit seiner Mutter über alles Mögliche reden konnte.
Mutter erzählte von der Revolution und wie sie Vater zum ersten Mal gesehen hatte.
»Er zog mit Hunderten von Menschen in einer Demonstration durch die Straßen von Leningrad. Dein Vater ging voran. Er trug eine rote Fahne. Du hättest sein Gesicht sehen müssen! Zuversichtlich und voller Vertrauen darauf, dass eine neue Welt geboren war, in der alle Menschen glücklich werden sollten. Und die Leute riefen . . .« Was die Leute gerufen hatten, hörteOleg nicht mehr. Er war eingeschlafen und träumte von seinem Vater, der mit einer roten Fahne durch die Straßen von Leningrad ging. Wenn er nur jetzt nicht in den Lastwagen stieg, um Lebensmittel über den zugefrorenen See zu fahren!
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* »Prospekte« werden in Leningrad breite Straßen genannt.
12
Am nächsten Morgen schneite es immer noch. Wie viel Schnee gefallen war, entdeckte Oleg, als er hinausging. Überall waren bereits dick eingepackte Frauen am Schneeschippen. Männer konnten für solche Arbeiten nicht entbehrt werden. Mit Besen und Holzschiebern türmten sie die weißen Massen am Rand des Bürgersteigs und dicht an den Häusern auf. Es blieb nur ein schmaler Pfad zum Gehen frei.
Auch an diesem Morgen wartete Oleg vergeblich auf Nadja. Ob sie schon auf dem Weg zur Garküche war? Oleg rannte. Er hoffte, sie einholen zu können. Er musste wegen Swerdlowsk mit ihr sprechen. Er nahm sich vor, falls er sie nicht eher sah, auf dem Rückweg zu ihr hinaufzugehen.
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