Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Etwas ruhiger lief er weiter. Leningrad war schön unter dem vielen Schnee. Man sah die Verwüstungen nicht so deutlich. Die Trümmerhaufen und sogar die Sandsäcke rund um die Standbilder auf dem Platz waren mit einer dicken Schneeschicht zugedeckt.
›Ein Glück, dass es so schneit!‹, dachte Oleg. Da wusste man doch wenigstens, dass keine deutschen Flugzeuge die Stadt bombardieren konnten.
Langsam stieg Oleg die Stufen zum ersten Stock hinauf. Seinen Suppentopf hatte er unten im Treppenflur abgestellt. Er scheute sich etwas, bei Nadja zu klingeln. Musste er ihrer Mutter irgendetwas sagen, weil ihr Mann und Serjoscha nicht mehr lebten? Sagen, dass es ihm leidtue? Oleg zog an der Glocke. Er hörte sie deutlich klingeln. Aber niemand kam und machte auf. Er klingelte noch einmal und schaute zur Treppe. Er dachte an die vielen Male, die er hier mit Nadja gespielt hatte. Richtige Nadja-Spiele: verrückte Fragen stellen und rasch antworten. Bei jeder guten Antwort durfte man eine Stufe hinunterspringen. Es ging darum, wer als Erster unten war.
»Warum hat Wera Trommelfelle, aber keine Trommel?«
»Wie viele Beine hat Nina?«
Es waren zweiundzwanzig Stufen. Aber man musste wohl vierzig solcher Unsinnsfragen beantworten, um die Chance zu haben, endlich unten anzukommen. Sie hatten immer ungeheuer viel Spaß dabei gehabt. Einmal hatte Nadja so gelacht, dass sie fast die Treppe hinuntergefallen wäre.
Oleg zog zum dritten Mal an der Glocke. Es blieb still hinter der Tür. Ob Nadja und ihre Mutter vielleicht zum Einkaufen gegangen waren?
Enttäuscht stieg Oleg die zweiundzwanzig Stufen nach unten. Er nahm seinen Topf und ging hinaus. Es schneite immer noch. Wenn man lange in den Himmelschaute, wurde man einfach schwindlig von den Tausenden tanzender Schneeflocken.
Als Oleg nach Hause kam, saß Onkel Wanja wieder neben Mutters Bett. Er hatte Formulare mitgebracht, die Olegs Mutter unterschreiben sollte. Viermal hatte sie ihre Unterschrift daruntergesetzt: schöne, ineinanderfließende Buchstaben.
»Dann ist jetzt alles beieinander«, sagte Onkel Wanja. Er stand auf und packte die Papiere zusammen.
»Bleibst du noch eine Weile, Onkel?«, fragte Oleg. Doch Onkel Wanja schüttelte den Kopf.
»Ich habe zu tun, viel zu viel zu tun!«
Einen stachligen Kuss auf Olegs Wange, einen Schlag auf die Schulter, und weg war Onkel Wanja.
»Hat er so viel zu tun, weil so viele Kinder evakuiert werden sollen?«, fragte Oleg.
Seine Mutter nickte. »Am liebsten würde Onkel Wanja die ganze Welt retten. Weil das aber nicht geht, versucht er wenigstens für die Kinder von Leningrad zu sorgen.«
»Ich glaube nicht, dass die Kinder das gut finden«, sagte Oleg vorsichtig.
»Was finden sie nicht gut?«, fragte seine Mutter.
»Von Onkel Wanja gerettet zu werden.«
Auf einmal sah seine Mutter ihn ganz ernst an, sodass Oleg die letzten Worte schon bereute.
»Das können die Kinder jetzt noch nicht beurteilen«, sagte sie leise. »Erst später, viel später, wenn sie ihr Leben gelebt haben, können sie übersehen, ob es gut gewesen ist, dass Onkel Wanja für sie gesorgt hat.«
Oleg nickte, dachte jedoch mit Widerwillen an Swerdlowsk. Was auch geschehen mochte, er wollte bei seiner Mutter bleiben. Deshalb war es so wichtig, dass er mit Nadja sprach. Sie konnte sich bestimmt etwas ausdenken, damit er nicht evakuiert wurde, wenn auch schon alle Formulare ausgefüllt und unterschrieben waren.
Es war bereits spät am Nachmittag, als Oleg zum zweiten Mal zu dem Haus ging, in dem Nadja wohnte. Träge wirbelten die letzten Schneeflocken auf Leningrad nieder. Der Himmel wurde heller. Es sah ganz so aus, als ob es kräftig frieren würde.
Abermals ging Oleg die Treppe hinauf. Abermals zog er an der Glocke. Einmal, zweimal und schließlich noch ein drittes Mal – fest und lange. Hinter der Tür blieb es totenstill. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn. Ob etwas geschehen war?
Im selben Flur öffnete sich eine Tür. Irina Akimowa, Nadjas alte Nachbarin, schlurfte mit einem Toiletteneimer näher.
»Willst du zu Nadja?«, fragte sie.
Oleg nickte.
»Hast du geklingelt?«
»Schon dreimal. Und heute Morgen auch schon.«
Es schien, als ob Irina Akimowa der Eimer gleich aus der Hand fallen würde. Entsetzt schaute sie auf die geschlossene Tür. »Großer Gott!«, flüsterte sie. Sie stellte den Eimer hin und lief zurück zu ihrer Wohnungstür. »Juri, Juri!«, rief sie aufgeregt. »Juri, rasch!«
»Was ist denn?« Juri Akimow schob sich auf
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