Oliver Hell - Das zweite Kreuz
sie bereits das ganze Wochenende verbracht hatte, lag ein riesiger Haufen Taschentücher. Alles tat ihr weh, der Kopf, der Nacken, der ganze Körper war schwer wie Blei. Sie hatte sich wie so viele eine Grippe eingefangen. Dämlich, wie sie war, hatte sie die ersten Symptome ignoriert, war sogar noch joggen gegangen und hatte sich damit richtig fertiggemacht. Die letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen. Am Morgen war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich krank zu melden. Die Grippewelle dauerte dieses Mal länger als in den Jahren zuvor. Sie fiel auch heftiger aus, es gab sogar Fälle, die längerfristig im Krankenhaus bleiben mussten.
Meinhold hustete. Wieder fuhr ihr der Schmerz durch alle Glieder. So ein Mist dachte sie. Jetzt jemanden zu haben, der einem eine warme Hühnersuppe ans Bett brachte, das wäre besser als ein Sechser im Lotto.
Sie rappelt sich auf, holte den Papierkorb unter dem Schreibtisch hervor und stopfte unter einem erneuten Hustenanfall die Taschentücher in den Papierkorb. Damit ging sie in die Küche und leerte ihn dort aus. Wenigstens diese Bazillen kriegen mich nicht mehr, dachte sie.
Als sie wieder hochkam, sackte der Kreislauf weg. Sie musste sich an der Arbeitsplatte festhalten.
Ein Tee. Das wäre es jetzt. Wenn schon keine heiße Suppe, dann wenigstens ein heißer Tee. Sie suchte in ihrem Küchenschrank nach einer runden Verpackung mit einem löslichen Schweizer Kräutertee. Eine Packung mit Reis fiel ihr herunter und der Reis ergoss sich über die Platte.
„ Scheiße!“
Schließlich fand sie den Tee in einem anderen Fach des Schrankes. Sie fegte die Reiskörner flüchtig beiseite und füllte Wasser in den Kocher. Sie warf einen Würfel Zucker in eine Tasse, füllte zwei gehäufte Teelöffel des Instant-Tees hinzu und goss die Tasse mit heißem Wasser voll. Beim ersten Schluck verbrannte sie sich die Lippen. Sie ließ die Tasse stehen und überlegte, wenn sie anrufen könnte. Ihr Kühlschrank gab nichts mehr her. Jemand musste für sie einkaufen. Das wollte sie am Samstag machen, doch da ging es ihr bereits so schlecht, dass sie nicht das Haus verlassen konnte. Abends hatte sie sich eine Pizza kommen lassen. Der Pappkarton mit der halb aufgegessenen Pizza lag noch im Wohnzimmer auf dem Tisch.
Ihre beste Freundin war im Skiurlaub. Wendt war ebenfalls im Skiurlaub. Lea könnte sie anrufen, oder Sebastian. Einer der beiden würde sicher Zeit haben. Sie nahm erneut einen Schluck. Diesmal war der Tee genießbar. Sie schlurfte zurück in ihr Schlafzimmer und fischte im Vorbeigehen noch das Handy vom Tisch.
Aus ihrem Kurs hätte sie niemanden anrufen mögen. Mit einigen der Kollegen verstand sie sich gut, aber nicht so gut, dass sie sie um Hilfe gebeten hätte. Sie schrieb zwei SMS, eine an Rosin, eine an Klauk. Wer zuerst antwortete, machte das Rennen. Vielleicht.
Im Kurs hatten sie letzte Woche die Wirkung von psychogenen Drogen auf den menschlichen Körper durchgenommen. Es gab Präzedenzfälle, in denen Menschen unter dem Einfluss getötet hatten, ohne es zu wissen. Man kennt Drogen, die alles Mögliche auslösen konnten, nur ein Mittel gegen die Grippe, das erfand keiner. Daran war sicher die pharmazeutische Industrie schuld, denn dann würden ihre Umsätze einbrechen. Dann doch lieber Impfungen auf den Markt werfen, die zwar gegen ein Grippevirus schützten, aber gegen die Mutation, die im nächsten Jahr auftauchte, genauso hilfreich war, wie ein Hustenbonbon.
Zuerst versuchte sie krampfhaft wach zu bleiben, nahm sich sogar ein Skript in die Hand. Doch wurde dadurch der Schmerz hinter den Augen wieder aktiv. Meinhold legte sich wieder ins Bett, zog sich die Decke bis ans Kinn und schlief wieder ein. Sie hörte auch nicht die SMS von Rosin und Klauk, die sich beide anboten, für sie einzukaufen. Hätte sie diese Mitteilungen noch gelesen, wäre sie sich weniger einsam vorgekommen, als sie einschlief.
*
Der Satz, den die Frau dem Beamten an der Rezeption ins Ohr schrie, wurde bei der zweiten Wiederholung deutlicher: „Mein Mann ist heute nicht von einem Seminar zurückgekommen. Ich habe schon am Veranstaltungsort angerufen, er ist losgefahren, aber hier nicht angekommen!“
„ Kann es sein, dass er noch jemanden auf dem Weg besucht hat?“, fragte der Beamte, der sich bereits einen Stift genommen hatte, um den Namen und die Adresse der Frau zu notieren.
„ Nein, das kann nicht sein. Er kommt immer direkt von seinen Seminaren nach Hause“, schnarrte die Frau ins
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