Oliver Hell - Das zweite Kreuz
wieder. Klauk fuhr. Rosin hatte es sich in dem Sportsitz so gemütlich gemacht, wie es die seitlichen Führungen ermöglichten. Ihre Knie lehnten auf dem Armaturenbrett. Auf der A562 standen sie im Stau. Wie immer, wenn es schneite.
„ Wer von uns fährt denn nachher noch zu Christina?“, fragte Rosin.
„ Wir können beide fahren, oder?“, antwortete er.
„ Ja, können wir machen. Darüber freut sie sich bestimmt.“
Sie schwieg eine Weile, dann fragte sie plötzlich: „Wieso siehst Du einen Zusammenhang zwischen der Zigarrenkiste und dem verschwundenen Mann?“
„ Ich weiß, das ist normalerweise Christinas Spruch: Es ist so ein Gefühl.“
Sie blickte aus dem Fenster. Gerade fuhren sie an einer Unfallstelle vorbei. Ein Kleinwagen war von einem viel größeren Wagen auf einen anderen geschoben worden. Der Kleinwagen sah aus wie nach einem Crashtest. Die Türe hing schief in den Angeln und die Airbags hingen schlaff herunter. So wie es aussah, war niemand verletzt worden.
„ Hast Du das gesehen? Wie kann man bei Schnee so fahren? Ich begreife es nicht? Was sagtest Du? Entschuldige, bitte.“
Klauk wiederholte, was er gesagt hatte.
„ Ja, ist es das? Ich weiß nicht, was sie so sagt. Ein Gefühl? Weil ein Bestattungsunternehmen auch gleichzeitig eine Sargtischlerei ist? Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?“
Klauk gab gerade Gas und ordnete sich rechts ein. „Wir werden es gleich sehen. Wenn die Frau diese Armbanduhr erkennt, dann haben wir eine Entführung. Ob wir es wollen, oder nicht.“
„ Würdest du die Hände deines Vaters erkennen, wenn sie gefesselt sind?“, fragte Rosin.
„ Vielleicht“, sagte er und dachte daran, dass er die Rolex seines Vaters sofort erkennen würde. Eine Rolex Submariner, die er schon seit Jahren trug. Der Gedanke an seinen Vater versetzte ihn in eine schlechte Stimmung.
„ Ich würde die Hände meiner Eltern erkennen.“
„ Warum erzählst Du mir das ausgerechnet jetzt?“, brummte Klauk, und sie hörte an seinem Tonfall, dass ihm dieses Thema nicht schmeckte.
Sie schenkte ihm ein Lächeln. Klauk sah es nicht.
*
Finster. Es war völlig finster in dem Raum. Er tastete sich voran. Füße und Hände waren mit silbernem Panzerband gefesselt. Er hatte den Druck ein wenig gemindert, indem er die Hände gegeneinander gepresst hatte. Dadurch lockerte sich das Band ein wenig. Seitdem der Mann mit der schwarzen Maske die Fotos von ihm gemacht hatte, war er sich selbst überlassen. Er hatte ihm die Binde von den Augen genommen, doch durch die Maske, die er trug, konnte er den Mann nicht erkennen. Außerdem sprach er durch einen Stimmverzerrer zu ihm. Mal klang er wie ein Kind, dann wieder wie eine Frau.
Karsten Olbrichs hatte Angst. Der Mann hatte ihn überrumpelt. Auf einem Autobahnparkplatz. Olbrichs hatte eine kurze Pause gemacht und war auf Toilette gegangen. Als er wieder zu seinem Auto zurückkam, fand er einen scheinbar besinnungslosen Mann neben seinem Auto liegen. Er beugte sich zu dem Mann hinunter und sprach ihn an.
„ Hallo, was ist mit Ihnen? Hallo, können Sie mich hören?“, hatte er ihn gefragt, als der Mann plötzlich wieder ganz munter wurde, und ihm ein mit Betäubungsmittel getränktes Tuch vor die Nase hielt. Alles ging so schnell, dass er das Gesicht des Mannes gar nicht richtig erkannt hatte. Als er wieder zu sich kam, befand er sich schon in dem Keller, war gefesselt und geknebelt.
In der Dunkelheit konnte er nicht auf seine Armbanduhr schauen, daher hatte er keine Ahnung, wie lange er sich schon in dem Keller befand. Ebenso hatte nicht die geringste Ahnung, warum er sich in der Gewalt dieses Entführers befand.
Geld?
Der normale Grund für eine Entführung. Erpressung. Ein Lösegeld fordern. Karsten Olbrichs besaß nicht genug Geld, um ein lukratives Ziel für eine Entführung zu sein. Kratzte man alles zusammen, dann würden es vielleicht zweihunderttausend Euro sein.
Die Bestattungsbranche hatte auch ihre rosigen Zeiten hinter sich. Früher war „Unter die Erde müssen sie alle“ ein geflügelter Spruch unter den Bestattern gewesen. Aber heutzutage hatte selbst das sich geändert. Auch beim letzten Gang wurde gespart. Mittlerweile konnten Särge und Urnen sogar im Internet bestellt werden. Nein, er hatte keine Ahnung, warum man ihn entführt hatte. Beim besten Willen nicht. Seine Angst hing ihm wie ein Kloß in der Kehle.
*
Als Klauk und Rosin vor dem Haus der Familie Olbrichs ankamen, dröhnte ihnen schon Klassische
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