Oliver Hell - Der Mann aus Baku (Oliver Hells zweiter Fall) (German Edition)
dort eine der Toten, egal welche.“
„ Ich werde das veranlassen“, sagte Dr. Beisiegel, „Wir haben einen Raum hier unten der wohl dafür geeignet ist. Trinken wir dann in der Zeit einen Kaffee?“
„ Ja, können wir tun“, sagte sie. Doch ihr Blick wirkte fahrig. Sie sah sich immer weiter in dem Raum um.
„ Soll ich Ihnen den Raum vorher noch zeigen? Dann wissen wir, ob er für ihre Zwecke geeignet ist.“
„ Ja, das erscheint mir sinnvoll.“ Sie warf Dr. Beisiegel ein flüchtiges Lächeln zu. Dann spitzte sie ihre Lippen und trat durch die Türe hinaus auf den hell erleuchteten Flur. Beisiegel ging vor und führte sie zu einer Türe am Ende des Ganges. Sie schloss auf, griff nach rechts um die Ecke und sofort flackerte das grelle Neonlicht an der Decke auf. Beisiegel musste blinzeln. Dr. Pütz blieb vor der Türe stehen. Ihr Blick wanderte im Raum umher.
„ Hübsch“, sagte sie, „Die Fliesen sind anders als im Raum zuvor. Das passt viel besser.“
„ Freut mich, dass wir das geklärt haben“, sagte Dr. Beisiegel. Ihre Kollegin erschien ihr immer weniger mit der Frau zu tun zu haben, die sie von früher kannte. Wer kümmerte sich in einem Raum der Gerichtsmedizin um die Größe der Fliesen? Keiner. Sie erklärte es sich damit, dass sie es gewöhnt war, genau hinzusehen in ihrem Beruf, sodass sie es auch in normalen Situationen tat. Unbewusst.
Wie genau sie mit dieser Einschä tzung der Wahrheit nahekam, konnte sie nicht wissen. Sie wandten sich zum Gehen, doch dann hielt Dr. Pütz inne.
„ Wissen Sie, Frau Kollegin“, fing sie an, „Würde es ihnen etwas ausmachen, wenn wir den Kaffee verschieben? Die Zeit drängt und ich könnte schon anfangen. Umso schneller haben wir ein Ergebnis.“
„ Da haben Sie natürlich Recht.“ Etwas anderes fiel ihr als Antwort nicht ein. So konsterniert war sie. Begeisterungsstürme hatte sie nicht erwartet. Aber Zeit für einen Kaffee, mit einer alten Studienkollegin, hätte man nach all der Zeit schon haben können.
„ Gut könnten Sie mir dann bitte die Leiche bringen, die noch in der Kühlung liegt?“
„ Selbstverständlich.“
Dr. Beisiegel atmete tief durch und ging sofort lo s. Mit ihr ging das wachsende Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
Dr. Pü tz trat in dem immer noch grell erleuchteten Raum, der als Ersatzobduktionsraum eingerichtet war. Sie schloss die Türe hinter sich und lehnte sich erschöpft dagegen. Ihre Beine drohten ihren Dienst zu versagen. Sie suchte Halt, presste ihre Handflächen gegen das glatte Metall. So schlimm wie heute war es schon lange nicht mehr gewesen. Sie hielt ihre Augen geschlossen. Zugekniffen. Nicht wieder auf die Fliesen schauen. Dann kam er wieder. Der Zwang. Seit einem Jahr litt sie darunter. Dr. Pütz hatte eine Zwangsstörung. Der Fachbegriff lautete Arithmomanie, der Zwang zu zählen. Egal was. Fliesen, Werkzeuge, die unschuldig auf dem Sezierwagen lagen, Menschen in einer Menge, deren Augen. Alles. Sie kam nicht mehr dagegen an.
Niemand auß er ihrem Therapeuten wusste davon. Es durfte keiner wissen. Ihr Ruf stand auf dem Spiel. Wer wollte eine Forensikerin mit einer Macke? Niemand.
Sie hielt die Augen geschlossen und ging vorwä rts. Dorthin, wo sie den glattgewienerten Tisch vermutete. Wenn es ganz schlimm war, dann konnte sie nicht arbeiten. Da sie immer alleine in ihrem Raum arbeitete, der vollgestellt war mit den plastischen Rekonstruktionen von Toten, fiel es nicht auf, wenn sie nur apathisch an ihrem Schreibtisch saß und Musik hörte. Musik oder Fernsehen beruhigte ihr strapaziertes Gehirn. Die Therapie hatte bislang nicht den erwarteten Erfolg gebracht. Ihr Therapeut war mit dem Verlauf alles andere als zufrieden.
„ Frau Doktor, wenn die Verhaltenstherapie nicht anschlägt, dann müssen wir etwas anderes ausprobieren“, sagte er. Das, was er damit meinte, war eine intensivere Behandlungsmethode. Die Behandlung mit Antidepressiva.
Sie wollte keine Pillen schlucken. Sie krallte sich mit beiden Händen in den Seziertisch, als plötzlich hinter ihr die Türe geöffnet wurde. Sie fuhr herum. Eine Mitarbeiterin der Gerichtsmedizin öffnete den zweiten Flügel der Türe, damit die Bahre, auf der die Tote lag, hindurchpasste. Eine zweite Laborantin schob die Bahre neben den Seziertisch. Sie fassten die Tote nicht an. Sie hoben das Laken unter ihr an und hoben sie mit einem Ruck auf den Tisch. Dr. Pütz beobachtete sie dabei. Scheinbar. In Wahrheit zählte sie die Fliesen auf dem Boden.
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