Oliver Twist
alte Frau, die damals so besorgt um mich gewesen waren«, erwiderte Oliver. »Sie würden sich bestimmt mit mir freuen, wenn Sie wüßten, wie glücklich ich jetzt bin.«
»Ganz sicher«, antwortete Miss Rose, »und Doktor Losberne ist bereits so freundlich gewesen, mir zu versprechen, dich zu ihnen zu führen, wenn du nur erst so weit erholt sein wirst, um die Reise überstehen zu können.«
»Hat er Ihnen das versprochen!« rief Oliver vor Freude strahlend. »Ich weiß gar nicht, was ich täte vor Entzücken, wenn ich ihre gütigen Gesichter noch einmal sehen könnte.«
Bald war Oliver so weit hergestellt, daß er die Anstrengung einer Fahrt nach London überstehen konnte. Eines Morgens bestieg Doktor Losberne mit ihm einen kleinen Wagen, der Mrs. Maylie gehörte, und sie fuhren in die Stadt. Als sie an der Chertseybrücke ankamen, wurde Oliver leichenblaß und stieß einen lauten Schrei aus.
»Was ist dir?« rief der Doktor wie gewöhnlich voll Lebhaftigkeit. »Siehst du etwas? Hörst du etwas? Fühlst du etwas? Ist dir etwas! Was ist es?«
»Dort, Sir!« rief Oliver aus und deutete aus dem Wagenfenster. »Das Haus dort!«
»Ja doch, was? – was ist’s mit dem Haus? Kutscher bleiben Sie stehen. Halten Sie dort vor dem Haus!« rief der Doktor. »Also, was ist es mit dem Haus, mein Junge?«
»Die Diebe, – das ist das Haus, wohin sie mich geschleppt haben«, flüsterte Oliver.
»Das ist doch unerhört«, schrie der Doktor. »Hallo, Kutscher, stehenbleiben!«
Ehe der Mann noch vom Bock heruntersteigen konnte, war er aus dem Wagen hinausgestürzt, rannte zu dem verödeten Hause und fing an, wie toll mit Händen und Füßen gegen die Türe zu hämmern.
»Teufel, was ist das«, schimpfte ein kleiner häßlicher Buckliger und öffnete die Türe so plötzlich, daß Doktor Losberne beinahe in den Flur hineingefallen wäre.
»Was los ist?« rief Doktor Losberne und packte den Buckligen ohne Umstände am Kragen. »Sehr viel ist los, Sie Kerl, Sie! Ein Einbruch ist geschehen.«
»Meinetwegen, was geht’s mich an«, erwiderte der Bucklige kaltblütig. »Lassen Sie mich sofort los, verstanden?«
»Jawohl, ich verstehe Sie sehr gut«, erwiderte der Doktor und schüttelte den Menschen am Kragen. »Wo ist er? Wie heißt der verdammte Halunke? Ja, richtig, Sikes. Wo steckt der Kerl?«
Der Bucklige machte ein wütendes und scheinbar erstauntes Gesicht, dann entwand er sich dem Griffe des Doktors, stieß eine Flut schrecklicher Verwünschungen aus und trat ins Haus zurück. Ehe er jedoch die Türe schließen konnte, war bereits Doktor Losberne in die Wohnstube eingedrungen. Er sah sich neugierig um, aber nichts war zu sehen. Kein einziges Stück Hausrat und nicht einmal die Lage der Wandschränke entsprach der Beschreibung, die Oliver gegeben hatte.
»Was soll das bedeuten, daß Sie so in mein Haus eindringen«, fragte der Bucklige, den Doktor scharf beobachtend. »Haben Sie vielleicht die Absicht, mich zu berauben oder zu ermorden, was?«
»Haben Sie schon einmal gesehen, daß ein Mensch, der derlei vorhat, zweispännig vorfährt, Sie albernes Scheusal?« schimpfte der Doktor gereizt.
»Also, was wollen Sie dann?« fragte der Bucklige. »Augenblicklichschauen Sie, daß Sie hinauskommen, sonst geschieht ein Unglück.«
»Ich werde gehen, wann es mir paßt, früher nicht«, sagte Doktor Losberne und spähte in die Nebenstube hinein, die ebenso wie die erste in keiner Weise mit der Schilderung Olivers übereinstimmte. »Warten Sie nur, ich werde Ihnen schon auf Ihre Schliche kommen.«
»So! Glauben Sie!« höhnte der Krüppel boshaft. »Wenn Sie mich jemals brauchen, können Sie mich immer hier treffen. Ich lebe nicht umsonst fünfundzwanzig Jahre hier. Glauben Sie nur nicht, daß ich mich von Ihnen ins Bockshorn jagen lasse. Sie werden mir alles das schon büßen!« Und der mißgestaltete Zwerg stieß ein Geheul aus und tanzte wie besessen im Zimmer herum.
»Dummes Zeug, Albernheit«, brummte der Doktor vor sich hin. – »Der Junge muß sich geirrt haben. Hier, da haben Sie! Stecken Sie das ein und halten Sie den Mund«, dabei warf er dem Buckligen ein Geldstück zu und kehrte zu dem Wagen zurück.
Der Krüppel folgte ihm, immerwährend Verwünschungen und Flüche vor sich hinschreiend, bis zur Wagentüre. Während Doktor Losberne ein paar Worte mit dem Kutscher wechselte, warf der Krüppel einen Blick in den Wagen hinein und faßte Oliver eine Sekunde fest ins Auge – mit einem Blick, so haßerfüllt und
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