Oliver Twist
der Freund, von dem Sie gesprochen haben, was?« fragte Mr. Claypole, alias Bolter, als er am nächsten Tag in Fagins Haus übersiedelte. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich mir gestern abend nicht schon so etwas gedacht habe.«
»Jeder ist sein eigner bester Freind, mei Lieber«, versetzte Fagin grinsend. »Oder glauben Sie, daß jemand en bessern Freind haben kann als sich selber?«
»Es gibt Ausnahmen«, antwortete Mr. Bolter, die Miene eines Weltmannes annehmend. »Zuweilen wenigstens – es gibt nämlich auch Menschen, die sich selbst die schlimmsten Feinde sind.«
»Gott, glauben Sie doch so eppes nicht«, rief Fagin. »Wenn e Mensch sei eigner Freind is, so is er’s doch bloß, weil er bissele gar zu viel sei eigner Freind is, und nicht, weil er is bekimmert und besorgt um irgend jemand andres mehr als um sich selber. Pühh! so etwas gibt’s doch gar nicht auf der Welt.«
»Es sollte es wenigstens nicht geben, wenn es auch immerhin vorkommen mag«, versetzte Mr. Bolter.
»Hast e Vernunftsgrund!« grunzte der Jude. »Es gibt gewisse Hexenmeister, die sagen, die Drei is e Wunderziffer, andre wieder sagen: die Sieben is e Wunderziffer. Ich sag’ Ihnen, lieber Freind, weder di Drei is e Wunderziffer, noch is die Sieben e Wunderziffer. Die Eins is e Wunderziffer.«
»Oho«, schrie Mr. Bolter lachend, »die Eins soll leben, die Eins, hoch, hurra!«
»In einer kleinen Freimaurerloge, wie wir hier sind in der unsrigen, lieber Freind«, fuhr Fagin fort, »haben wir keinegemeinsame Nummer eins, das heißt, genau gesagt: Sie selber können sich nicht für eine Eins halten, außer, daß Sie mich auch für eine Eins ansehen. Und ebenso ist es mit die andern jungen Leinte, verstehen Sie mich?«
»Donnerwetter ja«, rief Mr. Bolter.
»Sehen Sie«, fuhr Fagin fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, »wir sind so miteinander verschmolzen und unsre Interessen sind so gemeinsam, daß es gar nicht anders sein kann. Ich frag’ Sie: wollen Sie sorgen in erster Linie für Nummer Eins, das heißt also für sich selbst?«
»Bestimmt, ja.«
»Sehn Se, und so können Se doch nicht sorgen für Nummer eins, das heißt für sich selbst, ohne zugleich zu tragen Sorge für mich, ebenfalls Nummer eins.«
»Nummer zwei, meinen Sie wohl«, verbesserte Mr. Bolter, der genau, von Geburt an, unterscheiden konnte zwischen mein und dein.
»Sie verstehen mich nicht«, versetzte Fagin. »Ich bin für Ihnen genau ebenso wichtig, wie Sie es für sich selber sind.«
»Das heißt«, fiel ihm Mr. Bolter ins Wort, »Sie sind ja ein recht netter Mensch, und ich habe Sie recht gern, aber so dicke Freunde sind wir doch nicht, wie Sie glauben.«
Fagin zuckte die Achseln: »Ich geb’ Ihnen nur das eine zu bedenken: Sie haben eine sehr schene Sache angefangen, e Sach’, die Ihnen meine Freindschaft zugebracht hat. Es is aber gleichzeitig e Sache, die wo Ihnen –« er machte die Geste des Gehängtwerdens.
Mr. Bolter fuhr sich sofort an die Krawatte, als habe er das Gefühl, sie sei ihm zu eng, dann murmelte er leise ein paar anscheinend zustimmende Worte.
»Der Galgen«, fuhr Fagin fort, »jawohl, der Galgen. Der Galgen, mei Lieber, is so e Art Wegweiser, der einem, derden Weg verfehlt hat, anzeigt, wohin die eingeschlagene Straß führt; und sich da auskennen bei dem Wegweiser, das ist, sag’ ich Ihnen, der ganze Zweck des gemeinsamen Zusammenhaltens.«
»Natürlich«, stimmte Mr. Bolter bei. »Aber wozu reden Sie von derlei?«
»Damit Sie auch wissen, was ich mein’ und wie ich denke«, sagte der Jude und zog die Augenbrauen hoch. »Kurz gesagt: mei Interesse ist, daß mei kleines Geschäft von oben bis unten blitzsauber und in Ehren dasteht. Das ist Eire Nummer eins. Das zweite ist meine Nummer eins. Je mehr Sie auf Ihre Nummer eins halten, desto mehr missen Sie auch um meine Nummer eins besorgt sein. Hab’ ich nicht gleich am Anfang so etwas gesagt?«
»Schon richtig«, erwiderte Mr. Bolter bedächtig, »Sie sind ein alter Schlaufuchs.«
»Sehen Sie, dieses gegenseitige Vertrauen, das wir alle zueinander haben«, fuhr Fagin fort, »und gerade das Gefihl, daß so ä Vertrauen existiert, trestet mich über einen schweren Verlust. Gott über die Welt! Meine Hauptstitze hat mer gestern das Schicksal weggerissen.«
»Sie wollen doch mit diesen Worten nicht sagen, daß der Betreffende gestorben ist?« fragte Mr. Bolter.
»J wo«, sagte Fagin, »so schlimm ist es schon wieder nicht.«
»Also was denn? Hat man nach ihm
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