Oliver Twist
ich nicht recht habe.« Dieses merkwürdige Anerbieten pflegte Mr. Grimwig bei fast jeder Behauptung, die er aufstellte, zu machen. »Ich will meinen Kopf aufessen! sage ich, Sir«, wiederholte Mr. Grimwig und stieß mit dem Stock heftig auf den Boden. »Hallo, wer ist denn das?« rief er gleich darauf, als er Oliver erblickte, und trat einen Schritt zurück.
»Der junge Oliver Twist, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe«, sagte Mr. Brownlow.
Oliver verbeugte sich.
»Das ist doch nicht etwa der Junge, der das Fieber hatte, was?« fragte Mr. Grimwig und wich noch weiter zurück. »Warten Sie ein bißchen; kein Wort weiter«, fuhr er fort, triumphierend über eine Entdeckung, die er offenbar gemacht hatte. »Ich weiß es jetzt: der Junge hat die Orangenschalen weggeworfen. Wenn er es nicht gewesen ist, der ein Stück davon auf die Treppe geworfen hat, dann will ich auf der Stelle meinen Kopf aufessen und den seinigen dazu.«
»Nein, nein, er kann es nicht gewesen sein«, sagte Mr. Brownlow lachend, »kommen Sie nur, nehmen Sie den Hut ab und sprechen Sie ein paar Worte mit meinem kleinen jungen Freund.«
»Sie wissen, die Sache mit den Orangenschalen erregt mich immer sehr stark, Sir«, entschuldigte sich der streitbare alte Herr und zog seine Handschuhe aus. »Immer liegen Orangenschalen auf dem Pflaster, einmal mehr, einmal weniger. Etwas weiß ich ganz bestimmt: der Junge des Chirurgen, der an der Ecke wohnt, ist’s, der sie immer hinwirft. Gestern abend ist noch ein junges Mädchen über ein Stück ausgerutscht und gegen mein Gartengitter gefallen, und schon sah ich, wie sie nach der verdammten roten Lampe dieses Kurpfuschers hinguckte. ›Gehen Sie nicht zu ihm‹, rief ich ihr aus dem Fenster zu, ›er ist ein Mörder‹. Jawohl,das ist er auch und nichts anderes. Wenn er es nicht ist, so will ich auf der Stelle« – abermals stieß der reizbare alte Herr mit dem Stock auf den Boden, setzte sich aber dann, den Stock immer noch in der Hand, auf einen Sessel, hielt sich eine Lorgnette, die er an einem breiten schwarzen Band trug, vor die Augen und besichtigte Oliver, der dabei hochrot wurde.
»Das also ist der Junge, was?« fragte Mr. Grimwig endlich.
»Ja, das ist er«, sagte Mr. Brownlow.
»Wie geht es dir, mein Junge?« fragte Mr. Grimwig.
»O schon viel besser, Sir, ich danke«, antwortete Oliver.
Da Mr. Brownlow zu befürchten schien, sein sonderbarer Freund würde gleich etwas Unangenehmes sagen, befahl er Oliver, er solle zu Mrs. Bedwin hinuntergehen, um ihr auszurichten, daß man auf den Tee warte. Oliver war darüber sehr glücklich, denn Mr. Brownlow sprach so freundlich zu ihm.
»Er ist ein netter kleiner Kerl, nicht wahr?« fragte Mr. Brownlow, als Oliver draußen war.
»Könnte ich nicht behaupten.«
»Das könnten Sie nicht behaupten?«
»Nein. Ich kenne keinen Unterschied zwischen Jungen. Die eine Sorte hat Mehlgesichter und die andere Fleischgesichter.«
»Und zu welchen gehört Oliver?«
»Zu den Mehlgesichtern. Ich habe einen Freund, der hat einen famosen Jungen, das heißt, einen mit einem runden Schädel, glänzenden Augen und roten Backen. Er aber ist ein Ekel. Immer sieht er so aus, als ob er aus seinen Nähten herausplatzen wollte, und brüllen kann er wie ein Lotse, und einen Appetit hat er wie ein Wolf. Kurz und gut: ich kenne keinen ekelhafteren Lümmel.«
»Nun«, besänftigte Mr. Brownlow, »solche Eigenschaften besitzt Oliver wirklich nicht. Sie brauchen also gar nicht in Zorn zu geraten.«
»Nicht?« wiederholte Mr. Grimwig. »Dann hat er wahrscheinlich noch schlechtere Eigenschaften.«
Mr. Brownlow hüstelte ungeduldig, und das schien Mr. Grimwig große Freude zu bereiten.
»Wie gesagt, dann hat er wahrscheinlich schlimmere«, wiederholte er noch einmal. »Wo kommt er übrigens her? Wer ist er? Was ist er? Fieber hat er gehabt? Was soll das bedeuten? Gute Menschen haben kein Fieber. Oder? Schlechte Menschen dagegen immer. Was? Ich habe mir einmal von einem Mann erzählen lassen, der in Jamaika gehängt wurde, weil er seinen Herrn ermordet hatte. Der Kerl hat mindestens sechsmal das Fieber gehabt, aber begnadigt wurde er deshalb noch lange nicht. Lächerlich, es wäre ja auch Unsinn gewesen.«
In Wirklichkeit fühlte Mr. Grimwig eigentlich eine große Neigung zu Oliver. Er war ein Junge von ungewöhnlich einnehmendem Äußern, aber Mr. Grimwig besaß einen starken Widerspruchsgeist und ging nur darauf aus, seinen alten Freund zu reizen, weil er
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