Oliver Twist
wegen einer Überweisung von Gemeindearmen. Die löblichen Vorstände haben mich ausersehen – jawohl mich, Mrs. Mann –, die Sache dem Gerichte Clerkenwell vorzutragen. Na, es wird sich ja zeigen, ob das Gericht in Clerkenwell«, setzte Mr. Bumble hinzu und blähte sich gewaltig auf, »da lange standhalten wird können, wenn ich mich ins Zeug lege.«
»Ach Gott, Sie dürfen mit den Herrn vom Gericht nicht zu schroff verfahren, Mr. Bumble«, sagte Mrs. Mann mit erschreckten Augen.
»Die in Clerkenwell habens sich selbst zuzuschreiben, Madame«, versetzte Mr. Bumble, »sie habens ja selber ins Rollen gebracht; jetzt habens sie sich selber zuzuschreiben.«
Es lag so viel Entschlossenheit in der Art, wie Mr. Bumble sprach, daß Mrs. Mann ganz und gar eingeschüchtert zu sein schien. Kaum, daß sie die Worte hervorbrachte:
»Sie fahren im Postwagen, Sir? Ich hab’ immer gemeint, für die Armen tut’s auch ein Leiterwagen.«
»Das ist Vorschrift, Mrs. Mann, wenn sie krank sind«, erklärte der Kirchspieldiener, »wenn es regnet, kommen sie in offene Karren, damit sie sich nicht verkühlen, und jetzt nimmt sie der Omnibus von der Konkurrenzlinie auf; das macht die Sache sehr billig. Sie sind beide sehr krank, und wir glauben, wir ersparen zwei Pfund mehr, wenn wir sie rechtzeitig fortschaffen, als wenn wir sie hier begraben müssen. Wir müssen nur schauen, daß wir sie rechtzeitig nach Clerkenwell bringen, daß sie unterwegs net vorzeitig sterben. Hahaha!«
Nachdem Mr. Bumble ein Weilchen gelacht, fiel sein Blick wieder auf den Dreispitz, und würdevoller Ernst überzog seine Miene.
»Wir vergessen ganz das Geschäftliche, Madame«, sagte er mit verändertem Ton, »hier haben S’ das Kostgeld für den laufenden Monat.« Dabei zog er eine kleine Rolle Silbergeld aus der Tasche und ließ sich von Mrs. Mann eine Quittung ausstellen.
»Es sin a paar Tintenklex drauf kommen«, entschuldigte sich die würdige Dame, »aber sonst ist alles in richtiger Form. Und recht schönen Dank, Mr. Bumble, ich bin Ihnen so verpflichtet, Sie wissen gar net.«
Mr. Bumble nickte gnädig und erkundigte sich nach dem Befinden der Kinder.
»O Gott, die süßen kleinen Hascherln«, säuselte Mrs. Mann gerührt, »alleweil munter sins und halt immer gsund; die zwei natürlich ausg’nommen, die wo letzte Woch mit Tod abgangen sin. Und dann den kleinen Dick auch ausg’nommen.«
»Geht’s denn dem Jungen immer noch nicht besser?« fragte Mr. Bumble.
Mrs. Mann schüttelte melancholisch das Haupt.
»Dieser Dick ist ein mißratener, von Krankheit nur so strotzender Arbeitshausbengel«, schimpfte Mr. Bumble. »Wo steckt er?«
»Gleich in einer Minute schaff ich ihn Ihnen herbei«, rief Mrs. Mann. »Obs d’ gleich herkommst, Dick!«
Einiges Hin- und Herrufen im Haus, und dann brachte man Dick zur Stelle. Nachdem man ihm noch rasch das Gesicht unter die Pumpe gehalten und es ihm mit der Schürze Mrs. Manns abgetrocknet, wurde er zum gestrengen Herrn Kirchspieldiener geführt.
Es war ein bleiches abgemagertes Kind mit eingesunkenen Wangen und fieberhaft glänzenden Augen. Der dürftige Gemeindeanzug, die Livree seines Elends, hing ihm schlotternd um die Gliedmaßen. Er sah aus wie ein Geist im Kindesalter.
»Siegst denn den gnädigen Herrn net, du mißratener Bub, du?« schimpfte Mrs. Mann. Wehmütig erhob das Kind die Augen und begegnete dem Blick Mr. Bumbles.
»Also, was ist denn los mit dir, du Armenhausstrick?« fragte Mr. Bumble, scherzhaft gelaunt, wie es die Situation offenbar verlangte.
»Nichts, gar nichts, gnädiger Herr«, hauchte der Kleine.
»Na ja, das will ich meinen«, sagte Mrs. Mann, nachdem sie sich über die gute Laune Mr. Bumbles entsprechend ausgelacht hatte; »es fehlt dir ja auch an nichts.«
»Ich möchte gern . . .«, hauchte der Kleine.
»Ja ja«, unterbrach ihn Mrs. Mann rasch, »du willst doch wohl net sagen, daß dir’s hier an was fehlt, mißratener Bengel?«
»Nur Ruhe, Mrs. Mann, nur Ruhe«, ermahnte der Kirchspieldiener und erhob würdevoll den Zeigefinger. »Also, was möchtest du?«
»Ich möchte«, stammelte das Kind, »ich möchte bitten, daß jemand, der schreiben kann, für mich ein paar Worte auf ein Stück Papier schreibt, es zusammenfaltet und versiegelt und für mich aufhebt, daß ich’s bei mir hab’, wenn ich unter der Erde liege.«
»Was meint denn der Bub nur?« rief Mr. Bumble erstaunt und konnte eine gewisse Bewegung, die ihm die todestraurigen Worte und das kümmerliche
Weitere Kostenlose Bücher