Oliver Twist
begriff, was Fagin vorhatte, und keuchte, ohne ein Wort hervorzubringen.
»Um Hilfe hat er gerufen, was? Die Polizei hat er holen wollen, was?« höhnte Fagin und packte Oliver am Arm. »Warte nur, das werden wir dir austreiben, Bürschel.«
Wuchtig schlug er ihn mit dem Knotenstock über den Rücken und holte zu einem zweiten Hieb aus, da stürzte sich Nancy auf ihn und riß ihm die Waffe aus der Hand. Mit einer solchen Wucht schleuderte sie sie dann in die Kohlenglut, daß die Funken nur so stoben.
»Ich duld’ das nicht, ich schau’ das nicht ruhig mit an, Fagin«, schrie sie gellend. »Du hast ihn wieder, und damit genug, Fagin. Loslassen jetzt, oder ich geb’ dir einen Denkzettel, der mich noch vor der Zeit an den Galgen bringt.«
Sie war so rasend vor Wut, daß auch die letzte Spur von Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war.
»Gott über die Welt, Nancy«, rief der Jude bestürzt und starrte Sikes ratlos an. »Wozu so aufgeregt, wozu Komödie spielen?«
»Schon gut«, keuchte Nancy. »Nehmen Sie sich in acht, Fagin, daß ich nicht noch besser Komödie spiele. Nehmen Sie sich in acht, Fagin, daß es Ihnen nicht ärger an den Kragen geht, als Sie sich denken.«
Es gibt nur wenig Männer, die sich nicht überlegen würden, ein rasendes Weib noch weiter zu reizen. Auch Fagin begriff sofort, daß es am besten wäre, einzulenken. Scheu wich er ein paar Schritte zurück und warf Sikes einen ratlosen Blick zu. Mr. Sikes stieß zuvörderst ein paar Dutzend Flüche und Drohungen aus, als er aber sah, daß dies bei Nancy nicht verfing, schritt er zu anderen Maßregeln.
»Was soll das heißen? Was willst du damit sagen?« rief er. »Du scheinst nicht zu wissen, wer und was du bist.«
»O ja, das weiß ich ganz gut«, erwiderte die Dirne, lachte hysterisch auf und schüttelte mit geheuchelter Gleichgültigkeit den Kopf.
»Also, dann halts Maul«, knurrte Sikes, »oder ich werd’s dir für die nächste Zeit stopfen.«
Nancy lachte nur kurz auf, schoß einen wütenden Blick auf Sikes, wandte sich dann ab und biß sich in die Lippen, daß Blutstropfen hervorquollen.
»Du wärst mir so die Richtige, sich als Menschenfreundin aufzuspielen! Eine famose Freundin für den Burschen als Beschützerin, hahaha.«
»Ja, beim allmächtigen Gott, das bin ich!« rief Nancy leidenschaftlich. »Ich wollte, man hätt’ mich heute totgeschlagen auf der Straße, ehe ich mich dazu hergegeben hab’, ihn herzuschaffen. Von jetzt ab ist er ein Dieb, ein Mörder, ein Lügner und alles, was schlecht und böse ist; – ist das nicht genug für den alten Halunken? Auch noch schlagen will er ihn obendrein!«
»Ruhig, Sikes, ruhig, ruhig«, verwies der Jude und bedeutete dem Strolch mit Augenzwinkern, daß die Jungenneugierig auf alles aufpaßten, was vorging. »Mir missen freindliche Worte anwenden, Bill.«
»Ja ja – freundliche Worte«, rief die Dirne mit vor Leidenschaft und Wut verzerrtem Gesicht, »freundliche Worte, du Schuft. Verdienen tät ich’s freilich. Hab’ ich nicht gestohlen für dich, als ich noch ein Kind war, nicht halb so alt wie der da?« sie deutete auf Oliver. »Bin ich jetzt nicht in derselben Chawrusse vielleicht zwölf Jahre lang schon, oder vielleicht nicht?«
»Nu ja doch, nu ja doch«, sprudelte Fagin hervor, nach Kräften bemüht, den Frieden wieder herzustellen. »Nu und hast de denn nich ä gutes Leben gehabt dabei?«
»Jawohl ja, ein gutes Leben«, stieß Nancy hervor, »ein gutes Leben; auf den kalten Straßen war ich zu Haus. Du hast mich als Kind hinausgejagt, und dort werde ich mich herumtreiben müssen Tag und Nacht, bis ich krepiere.«
»Wart nur, ich tu der noch was an«, rief der Jude gellend dazwischen, gereizt durch Nancys Vorwürfe, »ich tu der noch was an, was noch viel schlimmer sein soll, als alles das, was de da sagst.«
Die Dirne biß die Zähne zusammen, raufte sich wie in einem Wahnsinnsausbruch die Haare, sprang mit einem Satz auf Fagin los, und wer weiß, was noch daraus geworden wäre, hätte sie nicht Sikes noch rechtzeitig an den Handgelenken erwischt. Vergeblich rang sie eine Weile mit ihm, dann verlor sie die Besinnung und fiel zu Boden.
»Na, jetzt sind wir sie vorläufig los«, brummte Sikes und schleppte sie in den Winkel. »Was diese Weibsbilder für eine unglaubliche Kraft haben, wenn sie sich mal in die Wut hineinkeifen.«
Der Jude wischte sich den Schweiß von der Stirne und lächelte sichtlich befreit bei dem Gedanken, daß der Streit vorläufig zu Ende war.
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