Oliver Twist
bereit finden würden, ihm Glauben zu schenken, wenn er ihnen die Sachlage erzählte.
Einen Augenblick überlegte er das alles, dann tat er einen Schritt vorwärts und sagte ein wenig hastig, er sei bereit mit Nancy zu gehen. Beides war der Dirne keineswegs entgangen. Sie blickte ihm fest ins Gesicht, und er las in ihren Augen, daß sie seine Gedanken erraten hatte und damit einverstanden war.
»Scht«, flüsterte sie und beugte sich mit einem scheuen Blick auf die Tür über ihn, »du kannst dir jetzt nicht allein helfen. Ich hab’ mir die beste Mühe jegeben, aber es hat alles jetzt keinen Zweck. Se haben dich feste an der Strippe. Wenn de mal später weg kannst, – jetzt is nich die Zeit dazu.«
Betroffen über die Eindringlichkeit ihrer Worte blickte Oliver ihr erstaunt ins Gesicht. Er sah, daß sie die Wahrheit sprach. Ihr Gesicht war leichenblaß; sie zitterte an allen Gliedern.
»Ick habe dir mal vor Mißhandlung jeschützt und werd’ es immer wieder tun«, fuhr Nancy lauter fort, »ick habe mir davor verbürgt, daß de dir ruhig verhalten und auch schweigen wirst. Tust de das nich, dann bringen se mich vielleicht um. Das hab’ ick alles um deinetwejen uff mir jenommen, so wahr Gott uns jetzt sieht!«
Dabei deutete sie auf ein paar Hieb- und Kratzwunden an ihrem Nacken und an ihren Armen und fuhr hastig fort:
»Denk dran, wat ick dir jesagt habe, und bring mir nicht in die Patsche; ich sag’ dir: wenn ich dir helfen könnte, tät ich’s jewiß, aber ick sag’ dir, es jeht jetzt nich. Se haben nich im Sinn, dir was zuleide zu tun, und wozu se dich zwingenwerden, is für dich doch keene Sünde. Still jetzt. Jedes Wort, das de sprichst, is ’n Schlag für mir. Gib mir jetzt schnell die Hand und mach rasch.«
Sie ergriff Olivers Hand und blies die Kerze aus. Dann zog sie ihn hinter sich her die Treppe hinunter. Eine in der Finsternis unkenntliche Gestalt öffnete rasch die Türe und schloß sie ebenso schnell wieder hinter ihnen. Vor dem Hause stand eine Droschke. Nancy schob Oliver hinein und ließ die Fenstervorhänge herunter. Ohne einen Befehl abzuwarten, peitschte der Kutscher auf sein Pferd los; gleich darauf rasselte der Wagen in vollem Galopp dahin.
Immerwährend hielt das Mädchen Oliver an der Hand und flüsterte ihm von Zeit zu Zeit Warnungen und Trostesworte ins Ohr. Alles ging so rasch vor sich, daß Oliver kaum Zeit hatte, nachzudenken oder zu überlegen, wo er war, und da hielt die Kutsche auch schon vor dem Hause, zu dem der Jude am Abend seine Schritte gelenkt hatte.
Rasch warf Oliver einen forschenden Blick auf die menschenleere öde Straße, und ein Hilferuf schwebte ihm auf den Lippen. Aber wiederum flüsterte ihm Nancy etwas ins Ohr und bat ihn so voll Entsetzen, sein gegebenes Versprechen zu halten, daß er nicht den Mut fand, um Hilfe zu rufen. Im nächsten Augenblick war er drin im Hause, und die Türe fiel hinter ihm ins Schloß.
»Hier hinauf«, sagte Nancy und ließ jetzt zum erstenmal seine Hand los. »Bill!«
»Hallo?« antwortete Sikes, der mit einem Licht oben an der Treppe erschien. »Na, das is mal pünktlich. Nur herauf mit euch!«
Für einen so temperamentvollen Herrn wie Mr. Sikes war dies ein ungewöhnlich herzliches Willkommen, und Nancy schien sich sehr darüber zu freuen.
»Der Köter ist mit Tom weggegangen«, brummte Sikesund leuchtete den beiden die Treppe hinauf. »Er wäre uns hier im Wege gewesen.«
»Das ist recht«, sagte Nancy.
»Na, und wie ist’s mit ihm? Ist er ruhig mitgekommen?« fragte Sikes mit einem Blick auf Oliver.
»Gehorsam wie ein Lamm.«
»Freut mich, zu hören«, sagte Sikes, »schon im Interesse seines jugendlichen Kadavers, dem’s sonst schlecht bekommen wäre. Komm mal her, Bursche, damit ich dir gleich mal ’ne gute Lehre gebe. Je früher, je besser.« Dabei riß er dem Knaben die Mütze vom Kopf und warf sie ins Eck, dann packte er ihn an den Schultern, setzte sich an den Tisch und sah ihm drohend ins Gesicht.
»Schau mal her: Nummer 1. Weißt du, was das fürn Ding ist?« Er griff nach einer Taschenpistole, die auf dem Tisch lag.
Oliver nickte.
»So, da pack mal aus«, fuhr Sikes fort. »Das hier ist Pulver und das hier ne Kugel, das hier ’n Stück von einem alten Hut. Daraus mach’ ich ’n Propfen.« Oliver murmelte, daß er begriffen habe, und Mr. Sikes lud umständlich die Waffe.
»So, nun ist sie geladen«, brummte er, als er damit fast fertig war.
»Ja, Sir, ich sehe«, hauchte Oliver.
»So, und jetzt
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