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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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habe. Er war bereits daran gewöhnt, stumm sein Leid zu tragen, denn er hatte in seinem Leben viel zuviel gelitten, als daß er einen Wechsel in seiner bisherigen Lebensweise allzu hart empfunden hätte. Ein paar Minuten blieb er noch in Gedanken versunken sitzen, schneuzte dann mit einem schweren Seufzer die Kerze und nahm das Buch vor, das ihm der Jude zurückgelassen hatte.
    Achtlos blätterte er anfangs die Seiten um, aber bald stieß er auf Stellen, die seine Aufmerksamkeit heftig erregten, und bald war er in das Buch vertieft. Es waren Schilderungen von fürchterlichen Verbrechen, und die Blätter waren ganz abgegriffen vom häufigen Lesen. Es standen Dinge drin, die ihm das Blut in den Adern stocken machten, Schilderungen von heimlichen Mordtaten, die auf einsamen Plätzen verübt worden, von Leichen, die man in tiefen Brunnen versteckt hatte; und immer waren die Brunnen noch nicht tief genug gewesen, die Ermordeten zu verbergen– schließlich hatte die Sonne doch alles wieder ans Licht gebracht. Und beim Anblick der Opfer hatten sich die Mörder so entsetzt, daß sie voll Grauen ihre Schuld eingestanden und nach dem Galgen geschrien hatten, um ihrer Gewissensangst ein Ende zu bereiten. Er las darin von Menschen, die in tiefer Nacht in ihren Betten gelegen und plötzlich von ihren eigenen Gedanken zu solchen entsetzlichen Bluttaten getrieben worden waren, daß es Oliver beim bloßen Lesen eiskalt überlief. Alles war so lebendig geschildert, daß die Seiten sich blutrot zu färben schienen, und die Worte, die aus ihnen kamen, klangen ihm wie das hohle Gemurmel von Schemen Getöteter.
    Außer sich vor Furcht und Entsetzen warf Oliver das Buch von sich. Dann fiel er auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn bewahren vor solchen Taten, – ihn lieber sterben als zum Verbrecher werden lassen auf Erden.
    Allmählich beruhigte er sich wieder und flehte zum Himmel um Erlösung aus den Gefahren, in denen er schwebte, wo er doch mutterseelenallein, umgeben von Verbrechen und Sünden wäre. Er hatte sein Gebet zu Ende gesprochen und lag immer noch am Boden, den Kopf in den Händen vergraben, als ihn ein raschelndes Geräusch aufschrecken machte.
    »Was ist das?« schrie er und fuhr zusammen, als er eine Gestalt an der Türe stehen sah. »Wer steht dort?«
    »Ich. Nur ich bin’s«, antwortete eine bebende Stimme.
    Oliver hob die Kerze in die Höhe und spähte in die Finsternis. Es war Nancy.
    »Setz die Kerze hin«, befahl die Dirne und wandte das Gesicht ab. »Sie blendet mich.«
    Oliver sah, daß sie sehr blaß war, und fragte höflich, ob sie krank sei. Nancy warf sich in einen Sessel, kehrte Oliver den Rücken, rang die Hände und schwieg.
    »Gott verzeih mir«, rief sie nach einer Weile, »ich wußte doch nicht, daß es so kommen würde.«
    »Was ist geschehen?« fragte Oliver. »Kann ich Ihnen helfen? Ich will alles tun. Wirklich und wahrhaftig.«
    Nancy wiegte sich hin und her, packte sich bei der Kehle, stieß einen gurgelnden Laut aus und schnappte nach Luft.
    »Nancy!« rief Oliver entsetzt. »Was fehlt Ihnen?«
    Die Dirne schlug sich mit den Händen auf die Knie und stampfte mit den Füßen auf den Boden, dann hielt sie plötzlich inne, zog sich ihr Umschlagtuch dichter über die Brust, und man hörte, wie ihr die Zähne klapperten.
    Oliver schürte schnell das Feuer. Nancy rückte ihren Stuhl dicht an den Kamin und saß dort eine Weile stumm. Schließlich richtete sie den Kopf auf und blickte um sich.
    »Ich weiß nicht, was mich manchmal packt«, murmelte sie und tat, als striche sie ihr Kleid zurecht. »Wird wohl der dumpfe schmutzige Kasten hier sein, glaub’ ich. Na, Nolly, bist de fertig?«
    »Soll ich mit Ihnen gehen?« fragte Oliver.
    »Jawoll. Willem hat mir herjeschickt«, erwiderte die Dirne, »du sollst mit mir kommen.«
    »Wozu denn?« fragte Oliver zurückweichend.
    »Wozu?« wiederholte Nancy geistesabwesend. »O zu nischt Bösem.«
    »Das glaub’ ich nicht«, sagte Oliver, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte.
    »Na, denn glaub’s nich«, sagte Nancy und lachte gezwungen. »Zu nischt Gutem also.«
    Oliver bemerkte genau, daß er in gewissem Sinn Gewalt über die besseren Gefühle des Mädchens hatte, und überlegte einen Augenblick, ob er nicht an ihr Mitleid mit der Hilflosigkeit seiner Lage appellieren solle. Aber da fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, daß es kaum elf Uhr seinkönne und sich noch viele Menschen auf den Straßen befinden müßten, von denen sich gewiß viele

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