Oliver Twist
durch Seitengassen, bis er endlich auf Snowhill landete. Hier beschleunigte er womöglich noch seinen Lauf und hielt nicht eher inne, bis er wieder in einen Hof einbog. Erst von da an mäßigte er seine Geschwindigkeit und verfiel allmählich in seinen gewohnten schlürfenden Gang.
Nicht weit von der Stelle, wo Snowhill und Holbornhill zusammenstoßen, öffnet sich rechter Hand, wenn man aus der City kommt, eine Gasse, Fieldlane genannt. In zahllosen winzigen Läden werden dort die Schnupftücher feilgehalten, die die Ladenbesitzer von den Taschendieben kaufen. Es ist das eine Art Handelskolonie für tausenderlei Artikel, wie sie die Diebe auf den Markt bringen. Dort rosten und modern in dumpfigen Kellern ganze Berge alten Eisens und Haufen schimmliger Abfälle von Leinen und Wollenzeug.
Hierher lenkte Fagin jetzt seine Schritte. Die gelb- und hohlwangigen Bewohner der Gasse schienen ihn alle zu kennen und nickten ihm zu, als er vorbeikam. Er nickte ebenfalls nur kurz, ließ sich aber auf kein Gespräch ein, bis er die Gasse durchschritten hatte. Dann blieb er stehen und sprach einen sehr klein gewachsenen Händler an, der in einen Kindersessel hineingezwängt vor seiner Ladentür saß und eine Pfeife rauchte.
»Nu, Mr. Fagin, das sind mir seltene Gäste«, sagte der Trödler als Antwort auf die Frage Fagins, wie es ihm gehe.
»Bei uns unten is mir der Boden e bissel zu heiß geworden, Lively«, murmelte Fagin, zog die Augenbrauen in die Höhe und kreuzte die Arme auf der Brust.
»Hab scho öfter drüber klagen hören«, versetzte der Trödler. »Aber es beruhigt sich immer wieder; glauben Sie nicht auch?«
Fagin nickte. Dann deutete er mit dem Daumen in derRichtung nach Saffronhill und fragte, ob dort drüben heute abend wohl jemand zu finden sein werde.
»Bei den Krüppeln?« fragte der Trödler. Fagin nickte.
»Warten Sie mal«, sagte der kleine Mann nachdenklich. »Ja, ja, ich glaube, mindestens ein halbes Dutzend sind hingegangen. Aber ich glaub nicht, daß Sie den dort finden werden, den Sie suchen.«
»Sikes? Was?« fragte der Jude enttäuscht.
»Nö«, erwiderte der kleine Mann und schüttelte mit scheuer Miene den Kopf. »Übrigens, haben Sie heute kei Geschäft?«
»Nein, heut abend nicht«, knurrte Fagin und wandte sich zum Gehen.
»Nu, Sie gehen doch in die ›Krüppel‹, Fagin?« rief ihm der kleine Mann nach. »So warten Sie doch a bissel, ich nehm’s gar nicht übel, wenn Sie mich zu ’nem Glas einladen.«
Fagin winkte ihm über die Schulter ab, und das Gasthaus zu den Krüppeln wurde somit für dieses Mal nicht der Ehre des Besuchs Mr. Livelys teilhaftig. Als sich der Trödler wieder niedersetzte und mit bedenklichem Kopfschütteln seine Pfeife zur Hand nahm, war Fagin bereits außer Sehweite.
Die »Drei Krüppel« waren das Gasthaus, in dem Mr. Sikes mit seinem Hund schon früher einmal eingekehrt war. Fagin schritt die Treppe hinauf, öffnete eine Stubentüre und schlich sich leise hinein. Sich die Augen beschattend, spähte er besorgt umher, offenbar jemand suchend.
Das Gastzimmer war von zwei Gaslampen erhellt, und die Fensterläden waren geschlossen und die Vorhänge dicht zugezogen. Die Decke war schwarz angestrichen, damit ihre Farbe unter dem Lampenqualm nicht leide. Dicker Tabaksqualm erfüllte den Raum. Allmählich erkannte Fagindie zahlreiche Gesellschaft, deren Anwesenheit ihm schon draußen durch den verworrenen Lärm, der bis auf die Straße drang, zum Bewußtsein gekommen war. Zuoberst am Tisch saß der Präsident mit einem Amtshammer in der Hand und in einem Winkel vor einem jämmerlichen Klavier ein Musikant mit blauroter Nase und das Gesicht, Zahnschmerzen halber, mit einem großen Tuch verbunden.
Fagin blickte lauernd von Gesicht zu Gesicht, schien aber den, den er suchte, nicht darunter zu finden. Er wechselte einen schnellen Blick mit dem Wirt, einem vierschrötigen Kerl, und schritt dann wortlos wieder aus der Stube.
»Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Fagin?« fragte der Wirt, der daraufhin sofort aufgestanden und ihm nachgeeilt war. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, meine Gäste würden sich sehr freuen.«
Ungeduldig schüttelte der Jude den Kopf und fragte flüsternd: »Ist er hier gewesen?«
»Nein.«
»Und auch keine Nachricht von Barney?«
»Nein«, sagte der Wirt. »Der kommt erst, bis alles wieder ruhig ist. Er ist viel zu vorsichtig. Aber es wird ihm nichts passiert sein. Ich wette ein Pfund darauf. Er wird die Sache schon wieder richtig ins
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