Oliver Twist
Geleis bringen.«
»Wird er heute abend herkommen?« fragte Fagin.
»Sie meinen Monks?«
»Still«, flüsterte der Jude. »Natürlich, ja.«
»Jedenfalls«, versetzte der Wirt und zog seine goldene Taschenuhr zu Rate. »Ich erwarte ihn schon lang. Wenn Sie zehn Minuten warten wollen, wird er –«
»Nein, nein«, lehnte der Jude hastig ab, sichtlich durch die Nachricht erleichtert. »Sagen Sie ihm bloß, ich bin dagewesen und er soll kommen heinte zu mir; noch heinte abend, oder besser: übermorgen.«
»Gut«, brummte der Wirt, »sonst nichts?«
»Vorläufig nix«, sagte Fagin und schlich die Treppe hinab.
»Was ich noch sagen wollte«, begann der Wirt wieder, beugte sich über das Treppengeländer und redete in leisem Flüsterton. »Sie könnten jetzt ein Geschäft machen. Phil Barker ist knallbesoffen, ein Kind könnt ihn kleinkriegen.«
»Geht jetzt nix«, erwiderte der Jude. »Noch nicht. Phil hat noch andre Sachen zu besorgen, ehe wir ihn entbehren können. Gehen Sie nur schon hinein ins Zimmer, mei Lieber.«
Kaum war Fagin allein, als sein Gesicht den früheren Ausdruck von Unruhe und Besorgnis wieder annahm. Er sann eine Weile lang nach, dann rief er eine Droschke an und befahl dem Kutscher nach Bethnal Green zu fahren. Etwa zehn Minuten vor der Wohnung Mr. Sikes’ stieg er aus und legte den Rest der Entfernung zu Fuß zurück.
»Wir werden’s schon erauskriegen«, brummte er vor sich hin und klopfte an die Türe. »Wenn da etwas Geheimes dahinter is, werd ich’s schon erausbringen, mei Mädel, verlaß dich drauf.«
Nancy schlief, das Gesicht auf dem Tisch, und das Haar hing ihr wüst um den Kopf.
»Aha, gesoffen hat sie«, brummte Fagin kalt. »Möglich auch, daß sie wieder den moralischen Katzenjammer hat.«
Er schloß die Türe zu; Nancy fuhr, erweckt durch das Geräusch, in die Höhe. Scharf blickte sie Fagin ins Gesicht, nachdem sie ihn gefragt, ob er Nachricht bringe. Aufmerksam hörte sie zu, was er von Toby Crackit erzählte. Dann sank sie in ihre frühere Stellung zurück und schwieg. Nur hie und da scharrte sie mit den Füßen den Boden. Das war alles.
Der Jude spähte lauernd umher, konnte aber kein Anzeichen, daß Sikes zurückgekehrt sei, entdecken.
»Was glaubst du eigentlich, mei Kind, wo Bill stecken mag?« forschte er.
Das Mädchen stöhnte und murmelte eine unverständliche Antwort. Sie schien zu weinen.
»Und der kleine Junge!« sagte Fagin, aufs äußerste bemüht, einen Blick von ihr zu erhaschen. »Der arme kleine Jung! In einem Graben haben sie ihn liegenlassen, Nancy, denke dir nur.«
»Das Kind«, schrie Nancy auf, »das Kind ist besser dran, wenn’s tot ist, als unter uns! Und wenn Bill kein Unglück weiter geschieht, will ich nur hoffen, daß der arme Junge tot ist und seine jungen Knochen im Graben verfaulen.«
»Was! Was i–is?« rief Fagin bestürzt.
»Jawohl, das wünsch ich«, schrie Nancy und sah ihm fest ins Gesicht. »Ich werde froh sein, wenn ich ihn nie wieder sehe, wo das Schlimmste jetzt vorbei ist. Ich hätt’s nicht länger ertragen können, ihn um mich zu haben. Sein Anblick macht mich mir selbst verhaßt und euch alle.«
»Püh«, tönte Fagin, »du bist wohl betrunken.«
»So? Betrunken!« rief Nancy bitter. »Deine Schuld ist’s freilich nicht, wenn ich’s nicht bin. Wenn’s nach deinem Willen ging, wär ich niemals nüchtern, höchstens jetzt vielleicht. Meine Stimmung paßt dir nicht, was?«
»Gewiß nicht«, sagte der Jude wütend.
»Dann mach sie anders«, antwortete die Dirne lachend.
»Anders machen«, schrie der Jude erbittert über die unerwartete Widerspenstigkeit seines Opfers, »jawohl, anders machen will jach sie. Dich werd ich auch anders machen. Hör zu jetzt, was ich dir sag, du freches Mensch: ich sag dir, ich kann dem Sikes mit ä paar Worten den Kragen erumdrehen, so sicher, wie wenn ich sei Kehle zwischendie Finger hätt. Kommt er zurück und bringt den Jungen nix mit, lebendig oder tot, so rat ich dir, bring ihn selber um, wenn du willst, daß er dem Galgen entgehen soll. Beim ersten Schritt, den er ins Zimmer erein macht, – sonst wird es zu spät sein.«
»Was sagst du da!« rief das Mädchen unwillkürlich.
»Was ich sag«, wiederholte der Jude, vor Wut fast außer sich. »Das sag ich: das Kind ist mir wert viele hundert Pfund. Was glaubst du, die soll ich verlieren, bloß wegen die Verrücktheiten von einer so betrunkenen Gesellschaft, wie ihr seid, und die ich in meiner Gewalt hab, und wo ich nur zu
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